Lieblingslied: Roman (German Edition)
Großvater. Also war er natürlich derjenige, den ich anrief, nachdem ich mich in die finanzielle Schieflage gebracht hatte.
»Du hast wie viel ausgegeben?«, fragte er, nachdem ich ihm meine Misere erklärt hatte.
Ich stand in einer Telefonzelle und investierte mein letztes Kleingeld in ein Gespräch, das pro Minute zwei Dollar verschlang. Die Zeit drängte. »Alles«, wiederholte ich. »Tut mir leid. Kannst du mir so viel überweisen, dass ich erstmal über die Runden komme? Inzwischen fällt mir sicher was ein.«
Ich ahnte, dass ich ernsthaft in der Klemme saß, als Großvater plötzlich mit seiner nachdenklichen Therapeutenstimme sagte: »Könnte ich schon. Aber ich glaube, das ist eine gute Gelegenheit für dich, endlich erwachsen zu werden. Ich rate dir, suche Hilfe bei Karl. Die Gitarre lässt dich nicht im Stich.«
Die automatische Ansage der Telefongesellschaft ertönte in Form einer Frauenstimme: »Noch eine Minute.« Das bedeutete, dass in einer Minute die Verbindung unterbrochen wurde.
»Wie meinst du das?«
»Warum spielst du nicht Gitarre und nimmst Geld dafür? Die Touristen wissen einen ausgebildeten Musiker als Straßenmusikanten sicher zu würdigen. Jedenfalls war das so, als deine Großmutter und ich in Wien gewesen sind.«
Ich hatte schäbig gekleidete, abgerissene Straßenmusikanten immer wieder an den Touristenzentren beobachtet. Und gelegentlich hatten sie auch größere Mengen von Zuhörern um sich versammelt. Ich hatte diese Leute eigentlich immer für Gammler gehalten, die anderen Leuten das Geld aus der Tasche zogen, um ihren Alkoholkonsum zu finanzieren. Der Gedanke, das ebenfalls zu tun, kam mir abwegig vor. Ich war kein Parasit. »Wirklich?«
»Ethan, warum reist man nach Österreich? Warum bist du dort? Wegen der Musik! Es ist die Wiege der klassischen Musik. Ich gehe jede Wette ein, dass sie zahlen, wenn du spielst. Ich jedenfalls würde es tun.«
»Noch dreißig Sekunden«, sagte die Stimme.
»Meinst du wirklich? Du glaubst, die Leute bleiben auch bei eisiger Kälte stehen und werfen Geld in den Hut.«
»Ist doch einen Versuch wert, oder?«
»Schon, aber was … wenn du dich irrst?«
»Was, wenn ich recht habe?«
»Klingt irgendwie nicht sonderlich verheißungsvoll. Wäre einfacher, wenn du mir eine kleine Summe schickst, dass ich die Feiertage überstehe.«
»Wäre sicher einfacher. Aber der leichteste Weg ist nicht immer der beste. Du hast dich in die Grütze geritten. Also zieh dich am eigenen Schopf wieder raus aus dem Schlamassel. Wenn es wirklich dein Wunsch ist, in Österreich zu bleiben, findest du einen Weg. Wenn nicht, ruf mich an, dann buche ich einen Rückflug in die Staaten … das Geld dafür kannst du mir dann zurückzahlen.«
Aus dem Telefonhörer drangen drei Pieptöne an mein Ohr. Ich konnte gerade noch »Wiedersehen, Großvater« sagen, dann war die Leitung tot.
Am darauffolgenden Tag, nach einer Probe mit einem kleinen Ensemble an der Universität, fuhr ich mit Karl zum Stephansplatz, in die Fußgängerzone vor dem Dom in der Stadtmitte. Während der warmen Jahreszeit hatte ich dort Straßenmusiker beobachtet. Der Ort erschien mir für eine Solovorstellung günstig.
Ich legte eine Pappunterlage auf das Pflaster vor einem Gebäude, an dessen Mauer ich Schutz vor den Elementen suchte, und setzte mich. Ohne auf die Schmetterlinge in meiner Magengegend zu achten, stimmte ich kurz Karl und klappte den Gitarrenkasten vor mir auf. Dieser war zwar kein Hut, bot jedoch ausreichend Raum für großzügige Spenden. Schließlich schloss ich angesichts von ein paar neugierigen Zuschauern die Augen und begann zu spielen.
Ich liebte es, auf dieser Gitarre zu spielen. Immer schon. Trotz seines Alters sah dieses Instrument schlicht und vollkommen unauffällig aus. Aber alles, was zählte, war der Klang. Und in dieser Beziehung war diese Gitarre ein Meisterwerk.
Wann immer ich eine Gitarre im Arm hielt – die Saiten zupfte, Musik machte –, blendete ich alles um mich herum aus und versank in meine eigene kleine Welt. Dort, mitten in Wien, mit Fremden, die mich anstarrten und deren Atem in der kalten Dezemberluft kondensierte, war es nicht anders.
Großvaters alte Gitarre klang so wunderbar wie eh und je. Ihre Bespannung war für die klassischen Stücke bestens geeignet, die ich zu spielen gedachte. Ich begann mit Clair de Lune , einem Stück von Claude Debussy, das ich als Sechszehnjähriger gelernt hatte. Ich kannte es in- und auswendig. Als ich geendet hatte,
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