Lieblingslied: Roman (German Edition)
befand sich dann in dem grausamen Dilemma, zu sterben oder einen Mord zu begehen. Ungefähr fünfzig Prozent wählten letztere Möglichkeit. In jedem Fall jedoch starb ein Mensch.
Am achten Februar – unseren Kalender verwaltete mittlerweile ein Russe, denn unser Ungar war Mitte Januar zu Tode geprügelt worden, weil er die Todesstiege nicht schnell genug bewältigt hatte – erschien Karl zur üblichen Nachtschicht in unserer Baracke. Er packte seine Gitarre gar nicht erst aus, sondern kam direkt zu meiner Koje und zog mich durch die Tür in den Korridor hinaus. Dort berichtete er nervös und aufgebracht, dass einige SS -Schergen unsere Baracke beim Pokern verzockt hatten, und wir daher bei Morgengrauen erschossen werden sollten.
Zu diesem Zeitpunkt konnte mich eigentlich nichts mehr erschüttern. Ich war überzeugt, dass mein Aufenthalt in Mauthausen früher oder später so enden musste. Und der Tod durch Erschießen erschien mir damals akzeptabler als ein Sturz über die Fallschirmwand.
Karl wurde angesichts meiner gleichgültigen Reaktion wütend. ›Ich bin nicht dein Freund geworden, nur um dich jetzt ans Messer zu liefern!‹, zischte er.
Karl hatte einen Plan. Unter dem Futteral seines Geigenkastens steckte ein Kompass, eine Landkarte und eine Ration Lebensmittel. Das alles, so erklärte er, sollte mir helfen, die amerikanische Einheit zu erreichen, die vor Kurzem dreißig Kilometer nördlich von Mauthausen Stellung bezogen hatte. Er zeigte mir auf der Karte, wo die Amerikaner zuletzt gesichtet worden waren.
›Wie stellst du dir das vor?‹, erkundigte ich mich. ›Soll ich einfach durchs Lagertor hinausspazieren?‹
Karl grinste. ›So ungefähr.‹ Er erklärte mir, dass er kurz vor Schichtende um fünf Uhr morgens in die Baracke kommen und mir seinen Plan mitteilen wollte. Er tätschelte beruhigend meinen Arm und verschwand durch den Haupteingang. Seine Gitarre ließ er an die Wand gelehnt zurück.
Ich ging wieder in meine Koje, fand jedoch keinen Schlaf. Um Viertel vor fünf hörte ich, wie die Eingangstür geöffnet wurde und eine leise Stimme rief: › Psst … Herb … komm !‹
Im Korridor saß Karl auf dem Fußboden und zog seine Stiefel aus. Mir lief es eiskalt über den Rücken, als er mir den Rest seines Plans beschrieb. Ich sollte tatsächlich einfach durch das Haupttor in die Freiheit marschieren. ›Ich gehöre zu der kleinen Gruppe von Wachleuten, die nicht im Lager leben. Und das nur, weil mein Vater ein hoher SS -Mann ist, und wir in der Nähe wohnen. Ich verlasse jeden Morgen das Lager mit dem Gitarrenkasten in der Hand, ohne dass das je beanstandet worden wäre. Neben dem Tor steht ein Wachmann auf der Mauer, aber es ist noch zu dunkel, als dass man von dort oben jemanden genau erkennen könnte. Schon gar nicht, wenn du meine Uniform samt Mantel anziehst und die Gitarre und den Schlüssel fürs Tor mitnimmst. Es kann nichts schiefgehen.‹
Als er seine Socken auszog, wurde mir schlagartig klar, dass er alles – auch sein Leben riskierte, um mir zur Flucht zu verhelfen. Das konnte ich nicht zulassen. ›Lass die Kleider an‹, sagte ich. ›Das kann nicht funktionieren.‹
Er beharrte auf dem Gegenteil.
›Nein!‹, widersprach ich. ›Da wird nichts draus. Vielleicht funktioniert es für mich, aber nicht für dich! Das Risiko ist zu groß!‹
Karl lächelte und sagte, er werde behaupten, ich hätte ihn niedergeschlagen und seine Sachen gestohlen. ›Selbst wenn mir das keiner glaubt, mein Vater sorgt dafür, dass mir nichts passiert‹, fügte er hinzu.
Ich weigerte mich. Das Risiko für Karl erschien mir zu hoch. Daraufhin zückte er die Pistole und zwang mich mit vorgehaltener Waffe, seinen Plan durchzuführen. Seine Hand an der Waffe zitterte zum ersten Mal nicht.«
Großvater stieß einen tiefen Seufzer aus. Offenbar drohten ihn seine Emotionen zu überwältigen. Es dauerte einige Momente, bis er fortfuhr:
»Widerwillig habe ich seine Sachen angezogen. Fünf Minuten später verließ ich in Karls dickem Wintermantel, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, die Baracke. Bevor ich die Tür schließen konnte, reichte er mir seine Waffe. ›Für alle Fälle‹, murmelte er.
Ich bedankte mich. Und das war’s. Mit der Gitarre in der Hand marschierte ich zum Westtor, winkte dem Wachmann auf der Mauer kurz zu und verließ Mauthausen ohne einen Blick zurück.
Eineinhalb Tage später, nachdem ich mit Hilfe von Kompass und Landkarte in Richtung der amerikanischen Stellungen
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