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Lieblingslied: Roman (German Edition)

Lieblingslied: Roman (German Edition)

Titel: Lieblingslied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K.A. Milne
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möglich an. Erneut flog die Tür auf. Auf der Schwelle stand wieder der junge Wachmann, Karl. In der einen Hand hielt er eine Pistole, in der anderen eine Gitarre.
    ›Was machst du? Bist du blöd?‹, zischte er leise. Und fügte auf Englisch hinzu: › Du kennst doch die Vorschriften !‹
    Ich sagte, ich könne nichts dafür. Der Klang der Musik sei einfach zu verlockend gewesen. Dann schlich ich lautlos in die hinterste Ecke des Korridors und kauerte auf dem Fußboden nieder, wo mich von außen durch das Fenster niemand sehen konnte. Karl hielt noch immer die Waffe auf mich gerichtet, unsicher, wie er sich verhalten sollte. Schließlich gab er nach. Mit sichtlich resignierter Miene steckte er die Waffe in das Halfter und nahm die Gitarre zur Hand.
    In der folgenden halben Stunde saß ich bewegungslos an die Wand gelehnt in meiner Ecke und beobachtete, wie Karls Finger mit bewundernswerter Fertigkeit die Gitarrensaiten bearbeiteten. Seine ausgefeilte Technik war faszinierend. Ich spielte selbst gern und ziemlich gut Gitarre. Doch Karl entlockte seiner Gitarre Klänge und Melodien, von einer Qualität, von der ich nur träumen konnte.«
    Großvater zögerte. »In diesem Punkt erinnert er mich sehr an deinen Ethan, Anna. Schade, dass er die Musik aufgegeben hat. Jedenfalls wurden Karls nächtliche Gitarrenkonzerte in Mauthausen zu einer Art Ritual. Er kam stets eine Stunde, nachdem das Licht gelöscht war, zu Schichtbeginn in die Baracke und begann zu spielen. Dann schlich ich aus dem Schlafsaal in den Korridor und hörte ihm zu. Am Tag lenkte mich die Schinderei im Steinbruch von der Aussichtslosigkeit meiner Situation ab. Die nächtlichen Musikstunden allerdings gaben mir meinen Lebenswillen wieder, auch wenn die Männer um mich herum vor Erschöpfung tot umfielen oder die Wachmannschaften damit prahlten, wie viele Häftlinge sie wieder in die Gaskammer geschickt und durch ein Guckloch beobachtet hatten, wie sie dort elend zu Grunde gegangen waren. Allein die Tatsache, dass ich mich den ganzen Tag auf etwas freuen konnte, hat mir die Hoffnung wieder gegeben.
    Nach einigen Wochen hatte ich das Gefühl, dass auch Karl sich auf unsere seltsamen nächtlichen Zusammenkünfte freute. Zumindest hatte er wohl gegen meine Anwesenheit nichts mehr einzuwenden. Auf mein Klopfzeichen ließ er die Pistole im Halfter, was ich als positives Zeichen nahm. Und letztendlich fasste er Vertrauen zu mir, erzählte von sich, von seiner Freundin und den Kleinigkeiten des Alltags. Allmählich konnte ich sogar akzeptieren, dass wir beide junge Männer waren, die für ihr Land kämpften. Karl hat es zwar nie offen ausgesprochen, aber seinen Andeutungen konnte ich entnehmen, dass er kein Anhänger Hitlers war.
    Karl spielte nicht nur Gitarre, sondern auch Klavier, Cello und Harfe. Er wollte Orchestermusiker werden, was sein Vater eifrig hintertrieb, während die Mutter seine Pläne unterstützte. Sie hatte ihm die Gitarre besorgt, als er zur Nachtwache eingeteilt worden war, und ihn ermutigt zu spielen, um sich wach zu halten. Während die anderen Wachleute Karten droschen und rauchten, um sich die Zeit zu vertreiben, übte Karl auf der Gitarre.
    Es dauerte nicht lange, bis auch andere Häftlinge auf die nächtlichen Gitarrenkonzerte und die Tatsache aufmerksam wurden, dass ich mich von der Pritsche stahl, um draußen im Korridor zu lauschen. Alle hielten das für äußerst riskant und zogen es vor, die Musik vom Schlafsaal aus zu genießen.
    Ein Ungar, der eine Koje ganz in meiner Nähe hatte, war der offizielle ›Kalenderbewahrer‹ unserer Baracke. Er hatte diese Aufgabe von einem Russen übernommen, der kurz nach meiner Ankunft von der Todesstiege über die Felskante in die Tiefe gestürzt worden war. Der Ungar führte gewissenhaft Buch und gab jeden Morgen Wochentag und Datum bekannt. Als der vierundzwanzigste Dezember anbrach, ließ uns dieses Datum völlig unberührt. Viele Mithäftlinge feierten kein Weihnachtsfest.Für sie war der Vierundzwanzigste ein Tag wie jeder andere. Und während der Schinderei im Steinbruch vergaß auch ich, dass der Weihnachtsabend nahte. Erst als Karl im Dunkeln auf seiner Runde in die Baracke kam, sollte sich das ändern. Er spielte zuerst Stille Nacht in der österreichischen Originalfassung. Es war wunderbar. Tief gerührt hörte ich zu, wie Karl die Melodie zu den Klängen der Gitarre vor sich hin summte. Und plötzlich summten einige von uns mit. In meiner Fantasie sang ich den Text so inbrünstig

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