Lieblingslied: Roman (German Edition)
überwachen und jeden, der außerhalb der Gebäude erwischt wurde, schnell und hart zu bestrafen.
In der dritten Nacht von Karls Schicht, weit nach Mitternacht, weckten mich ungewohnte Klänge aus unruhigem Schlaf. Musik , ganz in der Nähe. Natürlich war mir klar, dass es ein Fehler war, aber ich konnte unmöglich in der Koje ausharren, ohne herauszufinden, woher die Musik kam. Leise und auf Zehenspitzen, um die anderen Insassen nicht zu wecken, schlich ich über den kalten Holzboden zu einer Tür in der Mitte der Baracke. Hinter dieser Tür befand sich der Haupt-Eingangskorridor der Baracke, der gleichzeitig zwei große Schlafsäle voneinander trennte. Ich wagte es nicht, meinen Fuß in den Gang zu setzen, doch in meiner Neugier entdeckte ich einen schmalen Spalt zwischen der schief in den Angeln hängenden Tür und dem Türrahmen. Zu meinem Erstaunen erkannte ich dahinter Karl. Er saß im flackernden Schein einer Kerze auf einem Dreibein und spielte eine wunderbar klingende Gitarre. Hinter ihm lag die Tür zum zweiten Schlafsaal und zu seiner Linken der ebenfalls geschlossene Hauptausgang.
Nachdem ich mehrere Minuten lang durch die Ritze gespäht und Karls Spiel genossen hatte, beschloss ich, auf meine Pritsche zurückzukehren. Als ich jedoch einen Schritt rückwärts machte, knarrten die Bohlen unter meinen Füßen laut und hörbar. Ich erstarrte und hoffte, dass Karl mich nicht gehört hatte. Die Gitarrenklänge verstummten abrupt, und Sekunden später flog die Tür auf. Auf der Schwelle stand Karl, die Pistole in zitternder Hand, die Mündung auf meine Brust gerichtet. Karl war zweifellos der ängstlichere von uns beiden. Offenbar wollte er die anderen nicht wecken, denn er machte mir ein Zeichen, dirigierte mich mit vorgehaltener Pistole in den Durchgang zwischen den Schlafsälen und schloss die Tür hinter mir.
Karl starrte mich an, die Pistole noch immer in der Hand. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis er schließlich auf Englisch sagte: ›Sie sind der Amerikaner? Der Spion?‹ Sein Englisch war für jemanden, der vermutlich nie ein englischsprachiges Land besucht hatte, erstaunlich gut.
Ich versicherte ihm, kein Spion zu sein. Auf seine Frage, weshalb ich meine Pritsche verlassen hätte, erwiderte ich, die Musik habe mich geweckt und mich daran erinnert, wie schön es sei, eine Gitarre in den Händen zu halten.
Er zog die Augenbrauen hoch. ›Sie spielen Gitarre?‹
Ich nickte heftig und wollte wissen, weshalb er in unserer Baracke und nicht im Aufenthaltsraum der Wachleute im Offiziersgebäude spiele.
›Hier ist die Akustik einfach wunderbar ‹, flüsterte er. Und fügte achselzuckend hinzu: ›Im Waschraum ist sie noch besser – wenn der Gestank nicht wäre.‹ Er musterte mich erneut aufmerksam und bemerkte, er solle mich vermutlich erschießen, weil ich nach der Sperrstunde meine Schlafstätte verlassen habe. Sein Vater jedenfalls würde ihm einen Orden verleihen, wenn er an einem Amerikaner ein Exempel statuiere.
Ich erwiderte, er täte mir nur einen großen Gefallen, wenn er mich von meinem Elend erlöse. Das war natürlich unter diesen Umständen riskant, aber ich glaubte einfach nicht daran, dass er mir etwas antun würde. Davon abgesehen war mir klar, dass ich früher oder später sowieso sterben würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor einer der SS -Offiziere oder der Wachleute fand, dass ihm meine Visage nicht gefalle und er mich in den Steinbruch stürzen oder an einer Fahnenstange aufknüpfen würde. Der Tod durch eine Pistolenkugel erschien mir im Vergleich wesentlich erstrebenswerter.
Zuerst beschloss Karl, sich mutig zu zeigen und zielte weiter mit seiner Pistole auf meine Stirn. Doch wie ich bereits vermutet hatte, hielt er es nicht durch. Er ließ die Waffe sinken und sagte, er werde mich nicht erschießen, vorausgesetzt ich sei bereit, niemandem etwas von dem Vorfall zu erzählen. Seine Vorgesetzten würden ihm das nur als Schwäche auslegen, und er müsse schwerwiegende Konsequenzen befürchten. Mit ›Vorgesetzten‹ meinte er natürlich seinen Vater.
›Danke‹, flüsterte ich. ›Ich werde schweigen wie ein Grab.‹ Damit schlich ich leise zu meiner Koje zurück.
In der folgenden Nacht, ungefähr zur selben Zeit, hörte ich erneut leise Gitarrenklänge. Diesmal blieb ich wach und lauschte seinem Spiel. Nach zehn Minuten allerdings hielt ich es nicht mehr aus und beschloss, mein Glück erneut herauszufordern. Ich schlich zur Tür und klopfte so leise wie
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