Lieblingsstücke
nehmen. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich immer ins Hotel gehen. Nicht, dass mir unser Haus nicht gefällt, aber mit einem Hotel ist es wahrlich nicht zu vergleichen.
Man soll ja versuchen, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Nicht nur was die Ausstattung, sondern vor allem was die Anzahl der Servicekräfte angeht.
»Kann ich dann auf mein Zimmer?«, fragt mein Vater, der wohl kurz vergessen hat, dass ich nicht die Rezeptionistin bin und das hier auch kein Hotel. Das sieht mir ganz nach einem Fluchtreflex aus. Anscheinend will er sich um jede Begründung für seinen spontanen Einzug bei mir drücken. Ganz so leicht kann ich es ihm dann doch nicht machen.
»Soll ich mal die Mama anrufen?«, frage ich freundlich. »Die sorgt sich doch bestimmt.« Das ist zweifellos übertrieben, meine Mutter neigt, im Gegensatz zu den meisten Müttern weltweit, nicht zu großer Besorgnis. Und da mein Vater eindeutig volljährig ist und meine Mutter ihr Leben sowieso größtenteils auf dem Golfplatz verbringt, hat sie wahrscheinlich noch nicht mal bemerkt, dass mein Vater nicht zu Hause ist.
»Auf keinen Fall«, begehrt mein Vater auf, und ich habe zum ersten Mal, seit er mein Haus betreten hat, das Gefühl, es kommt wieder Leben in den Mann. Anscheinend auch Blut, denn er hat einen knallroten Kopf. Seine Adern am Hals schwellen richtig an, treten hervor. »Die nicht. Gerade die! Die soll gar nicht wissen, wo ich bin. Das geht die gar nichts an.«
Da habe ich eindeutig das Wespennest gefunden. Den sogenannten wunden Punkt. Es hat also mit meiner Mutter zu tun.
»Bist du irgendwie krank?«, nähere ich mich dem nächsten, möglichen Problemfeld.
»Nein«, brummelt mein Vater, »wenn hier überhaupt jemand krank ist, dann wohl eher deine Mutter.« Das klingt
nicht nach etwas Lebensbedrohendem, sonst wäre mein Vater kaum so bösartig.
»Papa, was ist los? Habt ihr Streit?«, hake ich nochmal nach. Alte Therapeutenregel. Nicht locker lassen. Beharrlich nachfragen.
»Deine Mutter hat einen anderen. Die betrügt mich. Mich!«
Das ist ja nun ein absoluter Knaller. Meine Mutter hat ein Verhältnis. Ich hätte mir viel vorstellen können, aber diese Variante wäre mir nicht in den Sinn gekommen.
»Bist du dir sicher? Man kann sich da schnell täuschen«, frage ich. Schon aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man sich schnell in Dinge reinsteigern kann, aus denen man dann nur sehr schwer wieder rauskommt. Vor meinem geistigen Auge taucht kurz Christophs Arbeitskollegin Belle-Michelle auf, mit der ich ihm vor einiger Zeit eine Affäre unterstellt hatte.
»Ich bin doch nicht blöd«, blafft mich mein Vater an. »Sie hat gestanden«, beendet er seine Ausführungen. Jetzt wird es Zeit für Detailangaben.
»Was genau gestanden? Kannst du ein bisschen konkreter werden?«, insistiere ich. Völlig umsonst. Mein Vater hat, wie man in bestimmten Kreisen sagt, total dichtgemacht.
»Ich will da nicht drüber reden. Sie betrügt mich. Fertig. Mehr musst du nicht wissen, Andrea. Das ist Privatsache. Meine Sache.«
Da erkenne ich doch endlich meinen Vater wieder. Er ist, wie viele Männer seiner Generation, nicht besonders mitteilsam, wenn es um Emotionen und Privates geht. Und bei persönlichen Niederlagen, welcher Art auch immer, schon gar nicht.
»Ich will jetzt auf mein Zimmer«, zieht er einen verbalen
Schlussstrich unter unsere Unterhaltung. Gerade jetzt, wo es spannend wird. Das ist ja wie im Fernsehen. Wenn an der aufregendsten Stelle die Werbung kommt und man wie ein kleiner Lemming vor der Glotze sitzen bleibt, um nur ja nicht zu verpassen wie es weitergeht.
»Papa, ich muss erst mal nachdenken, wo du schlafen kannst. Wir haben gar kein Gästezimmer. Nur unser Büro, und da ist es etwas voll.«
Etwas voll war eine niedliche Untertreibung. Zwischen all den Päckchen, Papieren und den zahlreichen Versteigerungsobjekten ist für ein Bett weiß Gott kein Platz mehr. Man kann kaum ein Kopfkissen unterbringen. Unser Haus ist ein Reihenmittelhaus. Ich will mich nicht beschweren – man kann nicht von beengten Wohnverhältnissen sprechen –, aber überflüssige, leerstehende Räume haben wir keine. Also muss mein Vater in eines der Kinderzimmer, was wiederum bedeutet, dass ein Kind sein Zimmer räumen muss. Das wird mit Sicherheit für Begeisterungsstürme sorgen. Vor allem, weil die zwei, Mark und Claudia, sich dann ja erst einmal ein Zimmer teilen müssen. Ich finde das nicht wirklich tragisch, schließlich habe ich meine gesamte
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