Lieblingsstücke
Kindheit mit meiner älteren Schwester in einem Zimmer verbracht. Und keines meiner Kinder ist annähernd so nervig wie meine Schwester.
Überhaupt meine Schwester. Wieso sitzt mein Vater hier bei mir auf der Couch? Was ist denn mit seinem Lieblingskind, der perfekten Birgit? Ich weiß, dass man, wenn ich über meine Schwester spreche, immer einen Hauch von latenter Verbitterung raushört. Es ist wirklich nur noch ein Hauch, aber ich kann ihn einfach nicht unterdrücken. Aufzuwachsen mit einer Schwester wie Birgit ist etwas, das Spuren hinterlässt. Weil meine Schwester so wunderbar
ist. So wunderbar aussieht. Und ihr Leben so wunderbar im Griff hat. Sie steht auf einem schönen Sockel und hat es sich dort auch recht gemütlich gemacht. Meinem kleinen Bruder Stefan macht das nichts aus. Wieso auch? Er ist der ersehnte Stammhalter und muss sich schließlich nicht an Wunder-Birgit abarbeiten.
»Papa«, entschließe ich mich, nachzufragen, »was ist eigentlich mit Birgit? Die hat doch viel mehr Platz?« Hat sie wirklich, die gute Mrs.Wunderbar. Sogar ein größeres Haus. Ein Reiheneckhaus nämlich. Ich merke, wie der Sozialneid in mir aufsteigt. Ich ermahne mich schnell selbst. ›Andrea, es ist deine Schwester!‹ ›Aber sie hat das größere Haus‹, piesackt eine böse kleine Stimme in mir. Mein Vater scheint die Frage komplett misszuverstehen.
»Willst du mich nicht hier haben?«, kommt sein Konter, und ich kann schon ein leichtes Eingeschnappt-Sein raushören. Er erhebt sich vom Sofa und will in Richtung Tür gehen. Mein Vater ist schnell beleidigt und legt dann auch schon mal gerne den Hörer während des Telefonierens auf. Ich gehe auf ihn zu, lege ihm meine Hand auf die Schulter und rede beruhigend auf ihn ein.
»Ich freue mich, Papa, also nicht über die Sache an sich, das mit der Mama und so«, ich gehe absichtlich nicht in die Details, man muss ja in Wunden nicht noch rumpulen, »aber darüber, dass du zu mir gekommen bist. Ich habe mich nur ein ganz klein bisschen gewundert.«
»Bei Birgit geht es nicht«, antwortet er und zerstört so meine kurze Freude darüber, einmal im Leben erste Vater-Wahl gewesen zu sein. »Am Wochenende kommt ein Kollege vom Kurt und da muss die Birgit das Zimmer vorbereiten. Ist ja klar, sie macht das ja immer so nett. ›Sonst natürlich gerne, Papa‹, hat sie gesagt.«
Ein Kollege von Ätz-Kurt, meinem Schwager, kommt am Wochenende. Da ist ihr auf die Schnelle aber auch keine dolle Ausrede eingefallen. Wer’s glaubt, wird selig. Und bis zum Wochenende muss sie das Zimmer richten. Lachhaft. Das kann man nur Menschen erzählen, die noch nie ein Zimmer gerichtet haben. Sie wird es ja für den Kollegen nicht neu tapezieren oder Wände einreißen und neuen Teppich verlegen. Staub saugen, Bett beziehen und ein paar Blümchen in einer Vase dekorieren, dürfte ja für Wunder-Birgit keine Wochenbeschäftigung sein. Birgit ist bestimmt so eine, die für den Gast noch eine kleine Praline aufs Kopfkissen drapiert. Und auf so einen Käse fällt mein Vater rein. Wie naiv Männer sein können. Die sehen einfach nur das, was sie auch sehen wollen, und können den Rest geschickt ausblenden. Alles in allem, typisch Birgit: Immer groß tönen und dann, wenn es gilt, kneifen.
Inzwischen ist es fast neun Uhr und ich habe nichts von all dem geschafft, was für heute morgen auf dem Plan stand. In eineinhalb Stunden werden die ersten Kunden klingeln, mein Vater braucht ein Zimmer, und ich weiß eigentlich nur, dass meine Mutter angeblich ein Verhältnis hat. Zu gerne wüsste ich mit wem. Komisch, dass mich nicht mal Birgit angerufen hat? Hätte sie ja mal machen können. Wenn Papa heute morgen schon bei ihr war, wäre das doch allemal drin gewesen. Ich hätte angerufen. Das ist der Unterschied. Aber vielleicht wollte sie mich nicht vorwarnen. Damit ich Papa nicht wieder zu ihr schicke. Die Annahme verweigere und das Paket zum Absender zurückschicke. Der ist wirklich alles zuzutrauen. Aber diesmal hat sie einen Fehler gemacht. Papa wird noch froh sein, bei seiner Nummer zwei untergeschlupft zu sein. Vielleicht wird das mein innerfamiliärer Aufstieg. Ein ganz
neues Ranking. Er wird mir meine Fürsorge auf ewig danken und irgendwann, wenn er wieder klarer denken kann, auch kapieren, dass ihn sein Liebling Birgit schnöde abgewiesen hat. Diese kleine morgendliche Entscheidung wird sie spätestens bei der Testamentseröffnung bitter bereuen.
»Papa, ich mache dir gleich Marks Zimmer zurecht, der
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