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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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Epigonen das letzte Glied; kurz, die
Anschuldigungen waren von der Art, wie sie kein ernsthafter Dichter gern auf
sich sitzen läßt. Es kam zum Prozeß, während dessen Anfangsstadium sich zur
Überraschung aller Beteiligten herausstellte, daß Golch und Wiener identisch
sind. In einer Anwandlung selbstkritischer Zerknirschung hatte Golch diese
radikale Methode gewählt, den Wert seines gesamten Schaffens vor aller
Öffentlichkeit in Frage zu stellen.
    Das erstaunte Gericht vertagte sich
daraufhin, um zu beraten, was hier zu tun sei: man wollte dieses mit Liebe
vorbereitete Verfahren, auf welches sich sowohl die beteiligten Juristen als
auch das Publikum gefreut hatten, nicht einfach sang- und klanglos abbrechen.
So suchte man also einen Präzedenzfall. Ein älterer
Beleidigungssachverständiger entsann sich eines — in der Tat, des einzigen — Falles
dieser Art; eines Falles, der gegen Ende des vorigen Jahrhunderts den
juristischen Instanzen zu schaffen gemacht hatte: das Verfahren Ansorge gegen
Ansorge vor dem großherzoglichen Kammergericht zu Karlsruhe. Der Feser wird sich dieser kuriosen Angelegenheit kaum noch
erinnern, es sei denn, er ist heute in den Achtzigern. Mir selbst ist der Fall
gegenwärtig, denn ich bin heute über neunzig; zudem war der Betroffene mein
Vetter.
    Der Philosoph Crispin Ansorge hatte — um
es in jedermanns Worten auszudrücken — zwei Seelen in seiner Brust: er war
Philosoph und Mensch. Als Philosoph beschäftigte ihn gebührenderweise ausschließlich die Welt der Gedanken, während er der Gefühlswelt nicht Rechnung
trug. Als Mensch dagegen war er jeglicher Philosophie abhold, da sie, wie er
sagte, in ihrer strengsten Konsequenz gefühlsfremd und damit lebensfremd sei.
Die Tatsache, daß er als Philosoph dualistische Tendenzen vertrat, daß also die
eine Hälfte der gespaltenen Persönlichkeit eine weitere Spaltung zum Wesen
hatte, mag seinen inneren Zwist noch verstärkt haben, aber das tut innerhalb
dieses Berichtes nichts zur Sache. Zu seinen Gunsten muß gesagt werden, daß er
bei seinen Vorlesungen niemals versuchte, durch Angriffe auf andere
philosophische Schulen den Hörern seine Ideologie als die einzig vertretbare
aufzuzwingen. Sein Vortrag war wie sein Denken: maßvoll und von keiner
Leidenschaft verzerrt. Diese trat nur in der Spannung zwischen Philosophie und
Leben zutage. Hier focht er einen Streit ohne Kompromisse. Traf man ihn auf der
Straße, so wußte man niemals, an welche der beiden Seelen in seiner Brust man
sich zu wenden habe; ja, es ging so weit, daß, wollte man ihn besuchen, seine
Haushälterin auf die Frage, ob Professor Ansorge zu sprechen sei, antwortete:
»Meinen Sie den Denker oder den Menschen?« Auf ein solches Dilemma war der
unbefangene Besucher natürlich nicht vorbereitet, er wurde verwirrt, und manch
einer verzichtete auf die Unterredung. Bei einem Menschen von geringerer
Bedeutung hätte man ein solches Gebaren als Unfug bezeichnet.
    Als naher Verwandter dieser
eigenartigen Erscheinung möchte ich kurz auf seine Erbmasse eingehen. Der Vater
vereinte in seinem Charakter eine gewisse zügellose Phantasie mit weltfremder
Naivität. Die Tatsache, daß er eine Zeit lang für die Wiedereinführung des jus primae noctis kämpfte, deutet ebenso — und zwar auf unzweideutige Weise — auf die seltsame Eigenwelt dieses Mannes wie auf die Tatsache hin, daß
der Sohn von dieser väterlichen Neigung, die ja eine gewisse, wenn wohl auch
vornehmlich theoretische Beschäftigung mit dem Körper voraussetzt, wenig, wenn
überhaupt etwas, übernommen hat. Die Mutter dagegen war eine Frau von
glücklichem Naturell, die mit beiden Füßen in dem Leben stand, das sie vorfand.
Ihre Gesellschaft soll jedoch schwer erträglich gewesen sein, denn sie äußerte
selten etwas anderes als stehende Redensarten, was zur Folge hatte, daß sie in
ihren späteren Jahren niemals etwas sagte, was sie nicht bereits schon immer
gesagt hatte. Dieses Zwiegespann war vielleicht nicht
alltäglich; dennoch ist es müßig, selbst in einer noch so willkürlichen
Mischung der Charaktereigenschaften beider irgendeine Basis für die Veranlagung
des Sohnes erkennen zu wollen, es sei denn, daß diesem Elternpaar tiefer gelegene
Züge innewohnten, die bei ihm, sich sublimierend, ans Tageslicht traten.
    Auf die Beschaffenheit seiner Konflikte
habe ich hingewiesen. Die Tatsache, daß er nicht das lehrte, was er lebte — oder
umgekehrt - teilt er mit vielen Philosophen. Indessen, bei ihm ging

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