Lieblose Legenden
Ende.
In Marseille angelangt, gedachten sie,
sich nach Samoa einzuschiffen. Aber es kam anders. Als sie eines Nachts die Cannebière entlanggingen, stieß Rudolf auf einen neuen
Wendepunkt: einen betrunkenen, halbnackten Matrosen. Es gelang den beiden im
letzten Moment, seinem gefährlichen Wirkungskreis auszuweichen, aber während
der Mann vorbeitorkelte, erblickten sie im Licht der Straßenlampe seinen
Oberkörper: eng bebildert, wie eine Wand im Louvre. — »Du solltest tätowieren
lernen !« sagte Bettina, erregt durch diesen Anblick;
»ich glaube, Rudolf, du könntest Großes leisten!«
Rudolfs innere Stimme wiederholte
Bettinas Aufforderung. Eine Woche später hatte er das Handwerkliche im Hafen
von Marseille erlernt. Gegen ein großzügiges Lehrgeld stellte ihm sein Meister
einige Matrosen zur Verfügung, die nicht so empfindlich waren, daß sie über
eine gelegentliche Korrektur unwillig geworden wären. Bald gewann Rudolf
Sicherheit über die Nadel, die er nun an Bettinas kostbaren Rücken setzen
durfte.
Auch hier versagten die Musen nicht.
Das Bild auf Bettinas Rücken wurde ein Meisterwerk unbeschwerter Transparenz,
eine Komposition in hellen, duftigen Tönen. Denn es gelang Westcotte ,
dessen Phantasie sich sogleich an dem neuen, geschmeidigen Material entzündet
hatte, das Primitiv-Lineare, das der Kunst des Tätowierens von je angehaftet
hatte, hinter sich zu lassen und farbige Flächen anzulegen, wobei er - Meister
der großen Vision, der er war — den Rahmen sprengte und die Schulterblätter bis
zu den Achseln in die Komposition miteinbezog . Zwar
kostete dieser Vorgang Bettina ein paar aufreibende Stunden, durch starke
Drogen nur leicht gelindert, aber das Resultat war Schmerzensgeld genug: als
die vollends Genesene sich, vermittels mehrerer Spiegel, von der Wirksamkeit
des neuen Schmucks überzeugen konnte, war ihre Freude groß.
Es versteht sich, daß die beiden ihre
Schiffskarten verfallen ließen und an die Riviera fuhren. Hier wußte man von Westcottes Bedeutung; und bald nachdem die Damen am Strande
Bettinas ansichtig geworden waren, konnte sich Rudolf neuen Rücken zuwenden.
Große Kunst ist der Ausdruck einer Art
Überwahrheit, es haftet ihr etwas Überzeugenderes, Größeres an, als unserer
hausbackenen Realität, die sich der Möglichkeit künstlerischer Darstellung
schon durch ihre immer wiederkehrende banale Alltäglichkeit entzieht. Diese
Überwahrheit zeichnet die Rücken Westcottes aus,
deren reifster wohl Mrs. Homer B. Shrankle jr.
gehören dürfte: ein horizontal angelegtes Stilleben in tiefbraunen und
mattroten Tönen, Ruhe atmend, meisterhaft in der Ausgeglichenheit seines Valeurs . Man sagt übrigens, daß das Museum of Modern Art in
New York mit den Nachkommen der nicht mehr jungen Mrs. Shrankle über dieses Stück verhandle, wie auch über den Rücken der alten Marquise de Corvois-Dutour , deren Erben — einem maliziösen on-dit nach — nicht auf Rosen gebettet sein sollen.
Freilich: wer wüßte nicht, wie das Gerücht gerade in solchen Dingen übertreibt!
Die erste Ausstellung der Rückenbilder Westcottes fand in Cannes statt. Sie diente wohltätigen
Zwecken; und da Damen der haute volée für wohltätige
Zwecke so gut wie alles zu tun bereit sind, stellten sie sich dem Komitee mit
einer Selbstlosigkeit zur Verfügung, die wahre soziale Gesinnung verriet: drei
Stunden am Tag saßen sie in der Galerie, mit hinten weitausgeschnittenen Roben,
ihre Rücken dem vorbeidefilierenden Publikum zugewandt. Sie hatten es jedoch
zur Bedingung gemacht, daß sie hinter Glas säßen, um sich kritischen
Untersuchungen der Textur und des Pigments von seiten zu näherer Analyse
aufgelegter Experten zu entziehen.
Westcotte wandelte durch die Reihen seiner Werke
— unbefriedigt; es schien ihm, als werde das Starr-Statische seiner
Kompositionen dem Material nicht gerecht. Man sollte, so dachte er, die
technischen Möglichkeiten der lebenden Materie anpassen: das Bild müßte ständig
in Bewegung sein, in wechselnder, schillernder Harmonie; Formen und Flächen
müßten sich gegeneinander verändern, ein dauerndes Widerspiel der Lichter und
Schatten, froh und übermütig. Den Gedanken, seine Damen turnen zu lassen,
verwarf er: es hätte die Grenzen des Zumutbaren überschritten. Zudem wäre es
der falsche Weg zu der gewünschten idealen Einheit. — Nein, zu den lebenden Bildern,
die nunmehr vor seinem geistigen Auge auftauchten, bedurfte es einer neuen
Konzeption, die von vornherein
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