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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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es noch
weiter: als Mensch, der regen Anteil an den geistigen Strömungen des Tages
nahm, äußerte er sich auch zu seiner eigenen Philosophie, indem er sie nämlich
mit sämtlichen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, vor allem aber in der
Presse, bekämpfte (wenn auch nicht in der Fachpresse, denn diese stand ihm als
Mensch nicht offen). In seiner hitzigen, überspitzten Ausdrucksweise, deren er
sich — als Mensch — bediente, vertrat er das, was er den menschlichen
Standpunkt der Philosophie gegenüber nannte, als Philosoph jedoch als
unsachlich verwerfen mußte. Man mag diese Aufsätze ablehnen, sich an ihrem
erregten Pathos stoßen, aber es darf nicht bezweifelt werden, daß es sich in
ihnen um die Ansicht eines aufrechten Mannes handelte, dem es durchaus ernst
war. Das dieserart Problemen aufgeschlossene Publikum sah sich in einen
Wirbelstrom gegensätzlicher Meinungen gerissen, und manch einer hätte an dieser
Debatte gern teilgenommen, hätte er gewußt, wie er es anstellen solle, Ansorge
zu verteidigen, ohne ihn dabei anzugreifen. Denn man konnte nie wissen, in
welcher Gestalt er auftauchte. Man wollte sich nicht dem bösen Spott des
Philosophen aussetzen, indem man eine Lanze für den Menschen brach. So schwieg
man und ließ ihn die Angelegenheit mit sich selbst ausfechten.
    Jedoch die Polemik nahm im Lauf der
Zeit solche Formen an, ihr Wortlaut wurde so beleidigend, daß eines Tages
Ansorge der Mensch, der im Gegensatz zu Ansorge dem Philosophen oft und auch
bewußt im Affekt handelte, einen Prozeß gegen den letzteren anstrengte. Man
kann dies nur so verstehen, daß er eine solche Handlung als symbolisch gedeutet
wissen wollte. Jedenfalls ein einmaliger Sachverhalt.
    Den Gerichtsbehörden gebührt in diesem
Falle unsere Hochachtung. Man kann ihnen wohlwollendes Entgegenkommen in
heiklen Situationen nicht absprechen. Ansorge gelang es, zwei Rechtsbeistände
für die jeweilige Sache zu begeistern, und es kam zu jenem Prozeß, den ein
damals bedeutender Rechtsgelehrter als »das vierblättrige Kleeblatt auf der
Wiese der Beleidigungsverfahren« bezeichnet hat. Damals bediente man sich noch
hübscher Bilder und griff sie meist aus der Natur.
    Mit gelassener Selbstverständlichkeit
vertauschte Ansorge mehrere Male die Anklagebank mit dem Klägerstuhl. Schon
schien es, als solle der Mensch den Prozeß gewinnen, denn die Stimmung auf der
Richterbank überwog zu seinen Gunsten, und wer würde ein Gericht für
Parteilichkeit dem Menschlichen gegenüber zur Verantwortung ziehen?! Aber nun
kam es zum Verhör des Klägers durch den Angeklagten! Da ja Ansorge nicht beide
Plätze gleichzeitig einnehmen konnte, war der Klägerstuhl leer. Crispin
Ansorge, dem natürlich ohnehin der Triumph eines Teiles seiner Persönlichkeit
sicher war, zeigte mit großer Geste auf den Klägerstuhl, wandte sich an Richter
und Publikum und rief mit dramatischer Würde: »Der Mensch, die feige Memme, hat
vor dem Philosophen die Flucht ergriffen !« Das war der
Höhepunkt. Der Applaus war stürmisch, die Welle der Gunst schlug — zumindest
für den Augenblick — von der Menschlichkeit über zur Philosophie. Sokrates
hätte geschmunzelt. Auch ich wäre gern dabei gewesen.
    Der Mensch hatte jedenfalls den Prozeß
verloren und wurde zu einer geringen Geldstrafe verurteilt: ich weiß nicht, ob
mein Vetter die Komödie so weit spielte, daß er sich selbst einen Scheck
ausschrieb. Jedenfalls hatte die Sache noch ein Nachspiel, indem die beiden
Anwälte, die sich während des Verfahrens in gegenseitige Erbitterung
hineingesteigert hatten, einen Prozeß gegeneinander einleiteten, der
allerdings, soweit mir bekannt ist, niemals entschieden wurde.
    Ansorge endete einige Jahre darauf
durch Selbstmord. Zweifelsohne wollte er es so darstellen, daß er einem Duell
mit sich selbst zum Opfer gefallen sei, wobei nicht klar ist, wer von den
beiden — Mensch oder Denker — als Anstifter gelten sollte. Tot waren sie beide,
denn seine philosophischen Schriften haben den Menschen so wenig überlebt wie
sein Dualismus den heutigen Pluralismus.
    Aus der Tatsache, daß nun auch, wie
jedermann weiß, im Falle Golch der Dichter den Prozeß gegen den Kritiker alias
Wiener gewonnen hat, können wir die Lehre ziehen, daß in solchen Fällen — ich
möchte sie Doppelseelenfälle nennen, um für zukünftige Eventualitäten einen
Präzedenzbegriff zu prägen — die verklagte Seele den Sieg über die anklagende
davonträgt.
    Dem Leser, dessen Gefühl

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