Lieblose Legenden
für
Gerechtigkeit durch einen solchen Umstand befriedigt ist, soll allerdings
gesagt sein, daß diese These, wie betont, als empirisch zu betrachten ist. Sie
baut sich nicht auf moralischer, sondern lediglich auf gerichtstechnischer
Notwendigkeit auf, und dadurch büßt sie leider an ethischem Gehalt ein.
Westcottes Glanz und Ende
Rudolf Westcotte war ein Begnadeter. Diese Tatsache hatte er früh erkannt und mit schöner
Gelassenheit hingenommen; schon in jungen Jahren wußte er, daß ihm das
Schicksal derer erspart bleiben würde, welche den dumpfen Drang zum
Selbstausdruck für erhabene Berufung halten. Daher quittierte er die
Großzügigkeit der Musen ohne jene Demut, die man den Titanen der Kunst — meist
zu Unrecht — nachrühmt; er fand vielmehr, daß ihm dies alles gebühre, und
machte es sich zur Aufgabe, die Spitzenrepräsentanten der bildenden Künste
einzeln, und jeden auf seinem eigenen Gebiet zu besiegen. Nachdem er, im Alter
von zweiundzwanzig Jahren, der Tafelmalerei seiner Zeit die letzten und
entscheidenden Akzente aufgesetzt hatte, nahm er den Meißel zur Hand und
korrigierte mit einigen wohlgezielten Schlägen den damaligen — wie ihm schien,
unvollkommenen — Stand der Bildhauerei. Lässig wandte er sich dem Fresco zu,
schuf Ewiges an den Wänden großer öffentlicher Gebäude, um sich lässig wieder
abzuwenden. Die graphischen Künste hatte er während seiner schöpferischen
Pausen abgetan.
So waren die Kollegen im Wettstreit
besiegt, die hergebrachten Ausdrucksmittel erschöpft. Mißmutig beschloß Westcotte , die Kunst an den Nagel zu hängen, und schlug — er
liebte Symbole — einen Nagel in die Wand seines Ateliers. Dies jedoch war einer
jener Wendepunkte, deren es — sollen wir den Biographen Glauben schenken — im
Leben jedes wahren Künstlers zumindest einen gibt; das Hämmern weckte nämlich
Bettina, die im Nebenraum geschlafen hatte. Verstört eilte sie herbei; mit der
Symbolfreudigkeit ihres Gatten vertraut, erahnte sie sogleich die Bedeutung des
Nagels.
Bettina war ehrgeizig und nicht
gewillt, auf den polychromen Glanz zu verzichten, der
sie in Modeblättern als berühmte Schönheit, in kunstgeschichtlichen Werken
dagegen als edelstes Modell ihres berühmten Gatten widerspiegelte: eine
Verkoppelung zweier Funktionen, die ihren Lebensinhalt bildeten. So hatte sie
denn auch bisher für eine lückenlose Entwicklungschronik ihrer reifenden
Schönheit gesorgt,-indem sie Rudolf dazu anhielt,
ihre Züge und Formen, je nach dem Stadium, in welchem er sich gerade befand,
mit Stift, Pinsel oder Meißel festzuhalten. Es versteht sich daher, daß sie
gegen den Entschluß zukünftiger Untätigkeit aufs heftigste protestierte.
»Wenn dir, mein Freund«, so rief sie
ihm zu, »die bewährten Mittel nicht genügen, so nimm dies«, — hier drückte sie
ihm eine Gartenschere in die Hand, — »geh hinaus in den Garten, und schneide
mein Bildnis in die Buchsbaumhecke !«
Wortlos nahm Rudolf die Schere, ging
hinaus und machte sich an ein überlebensgroßes Bildnis seiner Frau in
Buchsbaum. Bettinas Idee hatte das scheinbar verglimmende Feuer neu entfacht.
Geniale Menschen bedürfen oft nur des geringsten Hinweises auf einen noch
unvollkommen erprobten Bereich, und schon sind sie aus ihrer Lethargie erweckt.
Das Heckenbild ist eine Kunstform, die
ihrem Schöpfer eine gewisse architektonische Vereinfachung auferlegt.
Stilisierende Beschränkung auf das Wesentliche war indessen von je Rudolf Westcottes Stärke und Programm gewesen. Das Bildnis gelang.
Ihm folgten Portraits einiger auserwählter Freunde. Die theoretische
Untermauerung überließ er der Meute seiner Biographen, denen die Entdeckung
solch unverhofften Neulands willkommene Gelegenheit zu selbstherrlicher
Entfaltung bot. Aber auch diese Periode währte nicht lange. Da Buchsbaumhecken
schnell wachsen, erfordern sie eine dauernde Überarbeitung ihres Profils.
Rudolf war nicht geneigt, Tag für Tag Korrekturen seiner bestehenden Werke
vorzunehmen. Er beschloß daher, die inzwischen stattliche Galerie Zuwachsen zu
lassen, sehr zum Ärger Bettinas, deren Bildnis, im fortgeschrittenen Stadium
der Vernachlässigung, zu hämischer Karikatur verkommen war. In ihrer Erregung
versuchte sie, ihr Abbild zu retten, aber es gelang ihr nicht. Unter ihren
heftigen Schnitten schrumpfte der Strauch zum Skelett. — Den letzten Stadien
der Verwilderung entfloh das Paar durch eine längere Reise. Damit war auch
diese Periode zu
Weitere Kostenlose Bücher