Lieblose Legenden
Errungenschaften ja sehr umstritten
sind und — vermutlich — auch bleiben werden, wie es sich auch für einen
Quacksalber, Astrologen und betrügerischen Heilsverkünder geziemt.
Christian Theodor Bartschedel dagegen
war ein bedeutender Erzieher und Philanthrop, ein mutiger Vorkämpfer für die
sogenannte Allgemeinbildung (der Begriff stammt von ihm), Pionier auf dem
Gebiet der Abendkurse, ein Pestalozzi für Erwachsene. Es scheint mir ein
Zeichen der Zeit zu sein, daß einen das Leben mit solchen Namen nicht mehr in
Berührung bringt.
17. Oktober. Ein Sturm hat gestern
nacht die Bäume kahlgefegt und das Grün vor meinen Fenstern in ein Gitterwerk
von nackten Ästen verwandelt. Die entscheidenden Veränderungen des Jahres
geschehen plötzlich, meist über Nacht. Und so haben denn nun endgültig die
Wochen begonnen, da in den Lyrikspalten unserer Zeitungen die Leute mit jenen
düsteren Erkenntnissen und trüben Ahnungen zu Worte kommen, denen sie ihre
Sinne zu froheren Jahreszeiten blind und wohlgemut verschließen.
Mit der Post zwei Briefe. Der erste von
meiner Bank, enthält den Vorschlag einer günstigen Transaktion, der zweite ist
von Friedensohn. Er lautet:
Bester Freund,
Sie schreiben mir, daß Sie nach einer
Bearbeitung Ihres Bildes unter der Rubens-Skizze eine Gebirgslandschaft
entdeckt haben, die, Ihrer Meinung nach, dem zwanzigsten Jahrhundert entstamme,
und, wie ich weiterhin Ihren Worten entnehme, nicht zu dem Besten gehört, was
dieses Jahrhundert hervorgebracht hat. Sie bitten mich, in Anbetracht dieses
Tatbestandes, Ihnen die Zahlung für die von mir angefertigte Expertise zu
erlassen. Nun, ich bin bereit, Ihnen entgegenzukommen, kann Ihnen jedoch eine
Rüge nicht ersparen.
Sie haben sich selbst eines
Wertgegenstandes beraubt, indem Sie einem — ich möchte sagen, kindlichen — Forschungsdrang
nachgegangen sind: der Begier zu wissen, was dahinter steckt. Das war nicht
klug von Ihnen. Zudem ist es nicht üblich. Wo wären wir heute, frage ich Sie,
wenn wir dem kleinlichen Zweifel einen Platz in unserer Forschung einräumen
würden, deren Ziel es ist, die großen Richtungen zu bestimmen und einzuordnen!
Wir Kunstsachverständigen sind dazu da,
Wertbegriffe zu wahren und dort, wo sie verlorengegangen sind, aufs neue zu
prägen. Ich habe Ihnen mit meinem Urteil einen Wertgegenstand in die Hand
gegeben, welchen zu bewahren in Ihrem eigenen Interesse gelegen hätte. Anstatt
dessen haben Sie auf eigene Faust geforscht, indem Sie die Pigmentschicht
heruntergewaschen haben. Und nun beklagen Sie sich bei mir darüber, daß unter
ihr, an Stelle von nackter Leinwand, eine Gebirgslandschaft erschienen ist.
Seien Sie mir nicht böse, lieber Freund, aber das ist wirklich nicht meine
Schuld.
Mit den besten Grüßen
Francesco Friedensohn
Mit weltmännischer Bescheidenheit hat
er auch hier seinen Titel unerwähnt gelassen. Übrigens ist mir der Tenor dieses
Briefes nicht ganz verständlich: ich habe mich ja gar nicht bei ihm beklagt. Es
läge mir fern, mich etwa beim alten Friedensohn beklagen zu wollen, der
schließlich — wie auch Usteguy oder Wörthwanger — zum Bestand der grand old men unserer Kultur
gehört.
Das Gastspiel des Versicherungsagenten
Wer jemals den Pianisten Frantisek Hrdla gehört hat, wird diesen ungeheuren Eindruck niemals
vergessen (selbst wenn er es versucht). Auf Grund seines hinreißenden
Temperaments und seiner virtuosen Technik haben ihn die großen Kritiker des
Jahrhunderts mit Anton Rubinstein verglichen, und Eduard Watznik ,
der Nestor der Musikschriftsteller — er ist heute 104 Jahre alt, ist aber, wenn
er auch hin und wieder Opuszahlen verwechselt, durchaus noch auf der Höhe
seines rezeptiven Vermögens — Watznik also hat einmal
ausgerufen: »Schließt man die Augen, so vermeint man Liszt zu lauschen!« In
London und Kairo, Paris und Williamsburgh (Pa.),
überall braust diesem Gottbegnadeten frenetischer Beifall entgegen, sobald sein
letzter Ton verklungen ist. Dann erhebt er sich, langsam, völlig verausgabt,
aber bescheiden: ein Diener nur am Werke des Komponisten. Er verbeugt sich
tief, wobei, wie man sagt, ein müdes Lächeln um seine Mundwinkel spielt. Ein
echter Künstler, denkt der unbefangene Konzertbesucher, ein wahres Lieblingskind der Musen! Nur einige wenige,
darunter ich, sein Jugendfreund, wissen um seine Tragik, die Ursache seines
müden Lächelns: Hrdla ist ein verhinderter
Versicherungsagent. Frantisek Maria
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