Lieblose Legenden
für mich selbst. Über dieser Tätigkeit aber
vernachlässigte ich meine allgemeine Bildung nicht. Ich las viel und verkehrte
auch mit Schulfreunden, deren Werdegang ich beobachtete. Einer zum Beispiel,
dem man in seiner Jugend eine elektrische Eisenbahn geschenkt hatte, bereitete
sich auf die Laufbahn eines Bahnbeamten vor, ein anderer, der mit Bleisoldaten
gespielt hatte, ergriff die Offizierskarriere. So wurde durch frühe
Beeinflussung der allgemeine Nachschub geregelt, und ein jeder ergriff seinen
Beruf, oder vielmehr der Beruf ergriff ihn. Aber ich gedachte, mein Leben nach
anderen Gesichtspunkten einzurichten.
Hier möchte ich einfügen, daß ich bei
den Entscheidungen, die ich im Lauf der nächsten Jahre traf, nicht etwa von dem
Gedanken geleitet wurde, in den Augen anderer als exzentrisch oder gar als ein
Original zu gelten. Es war vielmehr die wachsende Erkenntnis, daß man nicht
schlechthin im bürgerlichen Sinne einen Beruf ergreifen könne, ohne dabei
seinen Mitmenschen auf irgendeine Weise ins Gehege zu kommen. Deshalb erschien
mir auch die Beamtenlaufbahn als besonders unmoralisch. Aber selbst andere, als
menschenfreundlicher geltende Berufe verwarf ich. In diesem Lichte schien mir
selbst die Tätigkeit eines Arztes, der durch seinen Eingriff Menschen das Leben
retten konnte, zweifelhaft, denn es mochte sich bei dem Geretteten um einen
ausgemachten Schurken handeln, dessen Ableben von Hunderten von unterdrückten Kreaturen sehnlichst herbeigewünscht wurde.
Zugleich mit dieser Erkenntnis kam ich
noch zu einer andern, nämlich der, daß die Tatsachen nur von dem
augenblicklichen Stand der Dinge abgelesen werden können, es also müßig sei,
aus ihnen irgendwelche Schlüsse ziehen oder Erfahrungen sammeln zu wollen. Ich
beschloß daher, mein Leben untätig zu verbringen und über nichts nachzudenken.
Ich schaffte mir zwei Schildkröten an, legte mich auf einen Liegestuhl und
beobachtete die Vögel über mir und die Schildkröten unter mir. — Das Zaubern
hatte ich aufgegeben, denn es hatte Vollkommenheit erreicht. Ich fühlte, daß
ich in der Lage sei, Menschen in Tiere zu verwandeln. Von dieser Fähigkeit
machte ich keinen Gebrauch, denn ich glaubte, einen derartigen Eingriff in das
Leben eines anderen nicht rechtfertigen zu können.
In diese Zeit nun fällt das erste
Auftreten meines Wunsches, ein Vogel zu sein. Zuerst wollte ich mir diesen
Wunsch nicht recht eingestehen, denn er bedeutete gewissermaßen eine
Niederlage: es war mir also noch nicht gelungen, mich wunschlos an der reinen
Existenz der Vögel zu erfreuen; mein Gefühl wurde von der Sehnsucht getrübt.
Trotzdem war ich schwach genug, mit dem Gedanken an die Verwirklichung zu
spielen, ja, ich war sogar stolz, in der Lage zu sein, meinem Wunsch willfahren
zu können, wenn und sobald es mir beliebe; es bedürfte lediglich noch einer
Probe meiner Kunst. Diese Gelegenheit bot sich bald. Eines Nachmittags — ich
lag im Garten und beobachtete meine Schildkröten — besuchte mich mein Freund, Dr. Werhahn . Er war Zeitungsredakteur. (Man hatte ihm in
seiner Jugend eine Druckmaschine geschenkt.) Er legte sich auf den Liegestuhl
neben mich und fing an zu klagen, zuerst über die Bösartigkeit des
Zeitungslesers und dann über die Unzulänglichkeit des heutigen Journalismus.
Ich sagte nichts, denn Leute lassen sich beim Klagen nicht gern unterbrechen.
Schließlich kam er zum Ende, indem er sagte: »Ich habe es satt«, und als eine
von meinen Schildkröten unter seinem Liegestuhl hervorkroch, sagte er noch: »Ich
wollte, ich wäre eine Schildkröte«. Dies waren seine letzten Worte, denn ich
nahm meinen Zauberstab und verwandelte ihn. Mit Dr. Werhahns journalistischer Karriere war es damit vorbei, sein Leben aber ist durch diese
Verwandlung wahrscheinlich verlängert worden, denn Schildkröten werden sehr
alt. Für mich aber war es ein Erfolg. Zudem hatte ich jetzt drei Schildkröten.
(Um jeglichem Verdacht vorzubeugen, möchte ich hiermit versichern, daß ich die
anderen beiden Tiere als solche gekauft hatte.)
Vor meiner eigenen Verwandlung habe ich
meine Kunst noch einmal angewandt. An diese Gelegenheit denke ich nicht ohne
eine gewisse Unruhe, denn ich bin mir nicht ganz im klaren, ob ich damals zu
Recht gehandelt habe.
Eines Nachmittags im Juni — ich hatte
den Tag auf dem Lande verbracht — saß ich im Garten eines Gasthofes unter einer
Linde und trank ein Glas Apfelmost. Ich freute mich des Alleinseins. Aber bald
betrat eine Schar von
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