Lieblose Legenden
Hrdla entstammt
einer Musikerfamilie. Sein Vater war ein gesuchter Musikpädagoge, der sich
durch seine Bearbeitung der Klassiker zu vier Händen unschätzbare Verdienste um
die Hausmusik erworben hat. (Als Komponist war er freilich nicht mehr als
»tüchtig«, und seine Symphonien sind heute vergessen.) Seine Mutter war eine
der sechs Töchter des Johann Nepomuk Hummel, hat sich aber als Harfenistin eine
durchaus eigene Stellung im Musikleben erobert.
Der kleine Frantisek wurde, kaum der
Wiege entwachsen, auf den Klavierschemel gesetzt, hatte bereits im Alter von
vier Jahren den »fröhlichen Landmann« hinter sich, und vier Jahre später
konnten ihm die Samthöschen des Wunderkindes angemessen werden. Diese
beängstigende Entwicklung wurde plötzlich zum Stehen gebracht: durch einen
Zufall lernte der junge Frantisek einen Versicherungsagenten kennen, der in dem
Zehnjährigen ein tiefes Interesse für das Versicherungswesen wachzurufen
verstand.
Nun begann der Konflikt, dessen Ausmaße
nur derjenige Leser überblicken kann, dessen eigenes Jugendschicksal der Kampf
um ein fernes Ideal gegen einen verständnislosen und unerbittlichen Vater war.
Nicht ohne tiefe Anteilnahme vergegenwärtigt man sich die zermürbenden
Schuldgefühle des jungen Menschen, der sich heimlich mit Agenten und
Statistikern treffen mußte, da der allzu gestrenge Vater ihm den Verkehr mit
Vertretern solcher Gewerbe untersagt hatte. Und dennoch: wie Frantisek mir
später einmal gestanden hat, gehört die Zeit, zu der er nachts unter der
Bettdecke Baumgartners »Gerichtspraxis in Versicherungssachen« las und seinen
eigenen — übrigens recht hübschen — Versuch »Kapitalreserve und Umlagesystem«
schrieb, zu den glücklichsten Perioden seines Lebens.
Aber kein Mensch mit wirklicher
Sensibilität hält eine solche dauernde Anforderung an seine Widerstandskraft
aus. Besiegt und entmutigt mußte sich der junge Frantisek seinem Schicksal
fügen und trat bald seinen Triumphzug durch die Welt an, auf dem er bis heute
nichts als Lorbeeren geerntet hat. Für lange Zeit verlor ich ihn aus den Augen,
aber oft, wenn ich sein Bild in der Zeitung sah, schien es mir, als hafte
diesem müden Blick ein Zug schmerzlicher Entsagung an, eine tiefe Sehnsucht
nach einem lang entschwundenen Ideal. Gestern nun habe ich den von einer
Auslandstournee Heimgekehrten zum erstenmal seit Jahren wieder gehört: er
spielte das neunte Klavierkonzert von Malinczewsky ,
welches, ebenso wie die vorhergehenden acht Konzerte, Hrdla gewidmet ist. Er spielte es so göttlich, daß wildfremde Menschen einander die
Hände schüttelten und selbst mir hartgesottenem Sachverständigen die Träne aus
dem Auge trat.
In der Pause, vor der Eroika , bahnte ich mir mit meinem Regenschirm den Weg durch
den erregten Schwarm der Autogrammjäger ins Künstlerzimmer. Mein Freund
Frantisek saß gealtert, müde und abgekämpft zwischen Lorbeerkränzen, die er mit
abwesender Miene zerpflückte. Ich ging auf ihn zu, küßte ihn auf beide Wangen
und sagte, sein Spiel sei eine Offenbarung gewesen. Er fragte kühl, ob ich etwa
etwas anderes erwartet habe. Nur so, rief ich aufgeregt, dürfe man Malinczewsky spielen. Es sei Unsinn, zu behaupten, dieser
Komponist verlange kein Rubato und keinen Tempowechsel.
Der karge Anschlag, die übertriebene Motorik der sogenannten sachlichen
Pianistenschule... Aber er hörte mir nicht zu, sondern sah mich von der Seite
an. Ich stockte. War dies der lauernde Blick des Versicherungsagenten auf ein
neues Risiko? Ein wenig verwirrt redete ich weiter, über die seltene
Kombination von brillanter Technik und wahrem Espressivo .
Es ließ ihn kalt.
Ich hatte das Gefühl, in den Wind
geredet zu haben, stand ernüchtert auf, schüttelte ihm nochmals die Hand und
wollte mich entfernen, um den wachsenden Ansturm der Autogrammsammler freie
Bahn zu geben. Da fragte er mit behutsamer Gelassenheit: »Sag mal, mein Lieber,
bist Du eigentlich versichert ?«
Etwas heiser gab ich zu, daß ich es
nicht sei.
Seine Augen leuchteten auf; er wurde
wach und angeregt. Mit einem Sprung war er beim Tisch und entnahm der Schublade
einige Policen: bevor ich » Eroika « sagen konnte,
hatte er mich gegen Mord, Unfall, Hagel und Nebel und alle Katastrophen,
Untaten und höhere Gewalten, gegen die man versichert sein kann, versichert.
Ich werde diese Minuten niemals vergessen: seine großartige Rednerkunst und
sein warmes Pathos kamen tatsächlich der ursprünglichen Kraft seiner Pianistik
gleich.
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