Lieblose Legenden
schließlich oft im Leben, allen
Eventualitäten gerecht zu werden. Begann heute nachmittag, mit einer
Benzin-Terpentin-Mischung mein Gemüsestilleben zu reinigen. Nach einigen
Stunden vorsichtigen Reibens begann das Pigment — nicht etwa, wie ich erwartet
hatte, sich allmählich aufzuhellen, sondern — zu schwinden, und es erschien
darunter die Ölskizze eines Frauenkopfes, zweifelsohne aus der Rubensschule.
Nun bin ich kein Freund von Rubens, noch weniger seiner Schule, die das
Diesseitig-Fleischliche ihres Vorbilds zwar nicht ohne Pietät, aber mit weit
weniger Überzeugungskraft aufgegriffen hat. Zudem paßt in den Mole-Rahmen kein
Frauenkopf. Habe beschlossen, morgen nach Casarina zu
fahren, um eine Expertise von Friedensohn einzuholen, ohne die heute kein alter
Meister — noch nicht einmal ein alter Schüler — zu verkaufen ist. Vielleicht
wird auch der Aufenthalt im Tessin dem Entstehen meiner Bartschedelrede
zuträglich sein. Hier komme ich ja doch zu nichts.
29. September, Casarina .
Die Luft hier ist noch paradiesisch mild, und so nehme ich die Spuren des
Sommers wieder auf, der einem in unseren Regionen stets unter der Hand zu
zerrinnen scheint. Nur das Winzerfest, dessen Programm sich alljährlich auf die
Wochen der Herbstsaison verteilt, in dessen Rahmen die Möglichkeiten der
Traube, als Gegenstand, Nahrungsmittel und Symbol, bis zur Neige ausgekostet
werden, erinnert daran, daß auch im Tessin das Jahr im Fallen ist; aber es
fällt mit lebensfroher Anmut. Unter den Arkaden dieses malerisch-entworfenen
Städtchens am See, voll fachmännisch durchgestalteter Buntheit und Emsigkeit,
hält der späte Italienfahrer seinen Wagen an, neigt sich zu seinen Mitfahrern
zurück und sagt: »Eigentlich ist es hier italienisch genug — was meint Ihr ?« Und die Mitfahrenden meinen es auch, denn hier befinden
sie sich noch innerhalb der Grenzen eines vielfach erprobten Paradieses und
dazu diesseits der Hygienegrenze.
Es ist Nacht. Ein lauer Wind weht vom
anderen Ufer her, über dem San Benedetto wetterleuchtet es, See und Bäume
rauschen sanft im Wind: es herrscht die rechte Stimmung, um sich an eine
Gedenkrede zu machen. Sie wird so, daß ich sie eventuell auch bei anderen
Gelegenheiten halten kann, im Falle ich mich als Nachwuchsbegabung auf diesem
Gebiete bewähren sollte. Habe beschlossen, vor allem Usteguys sehr luziden Gedanken aufzunehmen und für die Bartschedel-Deutung anzuwenden: Bartschedels Vermächtnis muß vor allem in der
Schicksalsverlorenheit unserer heutigen Zeit, die des Gefühls für transzendente
Werte verlustig gegangen ist, als die verbindende Seinseinheit einer wesensbewußteren Kulturepoche erscheinen. Darin liegt sein
großes Verdienst — aber auch eine gewisse Gefahr der Mißdeutung von seiten
Unberufener. So weit sein Werk; — und dann eben die Analyse der Persönlichkeit,
wobei ich selbstverständlich nicht nur auf eine tragische Spaltung zu sprechen
kommen will, sondern auch seine Suche nach dem Mystischen zu streifen gedenke,
ohne welche eine Würdigung dieser Art kaum als vollkommen gelten darf. Die Rede
wird gut.
Habe heute vormittag Friedensohn
angerufen. Sprach mit der Sekretärin, die sagte, »il conte «
— ich glaube, Friedensohn ist päpstlicher Graf — dürfe nicht gestört werden.
Auf dringendes Geheiß war sie aber doch bereit, mein Gesuch vorzutragen.
Mittags rief sie mich an und bat mich, das Bild schicken zu lassen. Außerdem
erwarte mich »il conte « nachmittags zum Tee. —
30. September, Casarina .
Mein Bild ist kein Rubensschüler, sondern ein früher Rubens, und zwar eine
Vorstudie zu seiner »Allegorie des Krieges« aus dem Jahre 1637. Diese Eröffnung
machte mir Friedensohn, als er mich in seinem Arbeitszimmer empfing. Ich fragte
ihn daraufhin, ob er es kaufen wolle. Er hob abwehrend die Hand und sagte:
»Bester Freund, Sie dürften wissen, daß der alte Friedensohn« — mit
bescheidenem Lächeln ersetzte er den Adelstitel durch die Andeutung seines
Alters und damit gleichsam seiner berüchtigten kennerischen Schlauheit — , »daß der alte Friedensohn ausschließlich toskanische
Schule kauft — und auch von der nur das Beste — nur das Beste!« — »Übrigens«,
fügte er hinzu und stand auf, »sind mir die Niederländer schon vom Sujet her zu
prosaisch, zu hausbacken .« Er verzog das Gesicht, als
habe er einen Bissen gekostet, den er an seiner berühmten Schlemmertafel
niemals geduldet hätte.
Dann gingen wir in den Garten, wo
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