Lieblose Legenden
fünf jungen Mädchen den Garten, die sich an den Tisch
neben dem meinen setzten. Die Mädchen sahen frisch und nett aus, aber ich war
über die Störung ungehaltener und wurde noch ungehaltener, als sie zu singen
begannen, wobei eine von ihnen den Gesang auf der Mandoline begleitete. Zuerst
sangen sie »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus«,
und dann:
Wenn ich
ein Vöglein war
Und auch
zwei Flügel hätt ’,
Flög ich zu dir.
Dieses Lied habe ich immer als ziemlich
dumm empfunden, zumal da die zwei Flügel ohnehin der natürliche Zubehör eines
Vogels sind. Aber hier war es der darin geäußerte Wunsch, ein solcher zu sein,
der mich dazu antrieb, dem Gesang ein Ende zu machen und die Sängerinnen in
einen Schwarm von Spatzen zu verwandeln. Ich ging zu ihrem Tisch und schwang
meinen Zauberstab, was für einen Moment so ausgesehen haben mag, als wolle ich
dieses Quintett dirigieren, aber nicht lang, denn fünf Spatzen erhoben sich und
flogen kreischend davon. Nur fünf halbleere Biergläser, ein paar angegessene
Butterbrote und die heruntergefallene Mandoline — ein Stilleben, das mich ein
wenig bestürzte — zeugten davon, daß hier noch vor wenigen Sekunden volles,
junges Leben im Gange gewesen war.
Angesichts dieser Verwüstung überkam
mich ein leichtes Gefühl der Reue, denn ich dachte, daß die Sehnsucht, ein
Vogel zu sein, vielleicht mit dem Singen des Liedes doch nicht unmittelbar und
eindeutig ausgedrückt sei, und daß außerdem die Wendung: »Wenn ich ein Vöglein wär « eben doch nicht unbedingt den Wunsch, ein solches zu
sein, bedeutete, obwohl es natürlich die Tendenz des Liedes ist (soweit man bei
einem solchen Lied von einer Tendenz reden kann). Ich hatte das Gefühl, als
habe ich im Affekt gehandelt, unter dem Einfluß meiner — übrigens gewiß
berechtigten — Unlust. Das empfand ich als meiner nicht würdig, und deshalb
beschloß ich, auch mit meiner eigenen Verwandlung nun nicht mehr länger zu
zögern. Ich möchte betonen, daß es nicht die Angst vor den Konsequenzen meiner
Tat, etwa einer gerichtlichen Verfolgung, war, die mich bewog, endlich andere
Gestalt anzunehmen. (Wie leicht hätte ich schließlich bei meiner Verhaftung die
Kriminalbeamten in Zwergpinscher oder ähnliches verwandeln können!) Es war
vielmehr die Gewißheit, daß ich aus technischen Gründen nie zu der ungestörten
Ruhe kommen würde, die ich zum reinen, vom Willen nicht getrübten Genuß der
Dinge benötigte. Irgendwo würde immer ein Hund bellen, ein Kind schreien oder
ein junges Mädchen singen.
Die Wahl der Gestalt einer Nachtigall
war nicht willkürlich. Ich wollte ein Vogel sein, weil mich der Gedanke, von
einem Baumwipfel zum anderen fliegen zu können, sehr lockte. Dazu wollte ich
singen können, denn ich liebte Musik. Den Gedanken, daß ich selbst nun
derjenige sein könne, der in das Leben eines andern eingreift, indem er ihn im
Schlafe stört, habe ich natürlich erwogen. Aber nun, da ich selbst kein Mensch
mehr bin, liegen mir der Menschen Gedankengänge und Interessen fern. Meine
Ethik ist die Ethik einer Nachtigall.
Im September vorigen Jahres begab ich
mich in mein Schlafzimmer, öffnete das Fenster weit, verzauberte mich und flog
davon. Ich habe es nicht bereut.
Jetzt ist es Mai. Es ist Abend und es
dämmert. Bald wird es dunkel sein. Dann fange ich an zu singen oder, wie die
Menschen es nennen, zu schlagen.
Die Dachwohnung
Seit mehreren Monaten suchte Martin
nach einer Wohnung, die seinen zwar nicht hohen, aber doch sehr bestimmten
Ansprüchen genügen sollte. Er hatte allmählich seinen ganzen Tageslauf dieser
Wohnungssuche angepaßt, seine regelmäßige Beschäftigung aufgegeben und ein paar
dringende Familiensachen, die noch vor einiger Zeit einer sofortigen Bearbeitung
bedurft hätten, so vernachlässigt, daß es nun sinnlos geworden war, sich ihrer
noch anzunehmen und er sie deshalb getrost ihrem Schicksal überlassen konnte.
Längst war die Wohnungssuche Selbstzweck geworden, eine Routinearbeit, bei der
das Objekt zwar wechselt, die Durchführung aber immer die gleiche bleibt. Er
verließ morgens das Haus, besuchte Agenten, besah Bauplätze und Häuser und kam
abends nach Hause; es war, als gehe er einem normalen Berufe nach. Die
Dringlichkeit der Sache wurde jedoch dadurch vermindert, daß er sich der
Notwendigkeit verbesserter Wohnverhältnisse nicht mehr bewußt war, denn er
nutzte seine augenblickliche Wohnung infolge Zeitmangels nicht
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