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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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anstrengenden Abend hinter mir. Von weitem
hörte ich das Pfeifen einer Lokomotive, und ich weiß noch, daß ich froh war,
nun über dem Rauschen des Festes nebenan — im Augenblick schien es nicht mehr
als ein Summen — andere Geräusche wahrnehmen zu können. Durch die Vorhänge sah
ich, daß es heller wurde, also die Tageszeit anbrach, zu der ich, wenn ich wach
bin, einer langen Bahn von Bildern, von Erinnerungen bis zu trüben Ahnungen entlanggleite . Dazwischen hörte ich das Krähen eines
Hahnes; die einzige Funktion des Federviehs, die ihm Anspruch auf poetische
Verarbeitung gibt, dachte ich und merkte, daß, wie so oft in ungewohnten Lagen,
meine Gedanken sich selbstständig machten. Darauf schlief ich ein. Am späten
Nachmittag erwachte ich. Ich sah durch das Loch. Da war das Fest noch in vollem
Gange, und ich wußte, daß es nun für immer weitergehen würde.

Der Urlaub
     
     
     
     
     
     
    Seit einiger Zeit erwachte Adrian bei
Morgengrauen. Wie ein abziehender Nebel verließ ihn der Schlaf, sanft aber
unerbittlich, und hier war er nun, ins Zwielicht der Wirklichkeit versetzt. Wie
sehr er auch versuchen mochte, in diesen Schlaf zurückzufliehen,
hinaufzuschweben, um einen Zipfel der Nebelwolke noch zu erhaschen, es gelang
ihm nicht. Wachheit kroch ihm die Beine empor und spannte seinen Körper. So lag
er dann, während sich in seinem Bewußtsein die Fäden der Wirklichkeit wieder
verknüpften, die das Gestern mit dem Heute verbanden und eine Flucht nunmehr
unmöglich machten. Er gab auf. Das zunehmende Tageslicht brachte die Routine
täglicher Verrichtungen näher, in welcher man — wie es ihm schien — so oft zu
versinken drohte.
    Diese Gedanken beschäftigten ihn auch
jetzt, am Morgen eines Tages, der im Zeichen wichtiger Verabredungen stand. Aus
ihnen wurde er durch das Läuten des Telephons gerissen. Gleichzeitig klopfte es
an der Haustür. Was zuerst? Der Tag fing also schon mit einem Dilemma an,
dachte Adrian und wollte die Tür öffnen und den Klopfenden bitten, zu warten,
bis er das Telephon beantwortet habe, aber seine mangelhafte Bekleidung fiel
ihm ein. Er verschloß seine Ohren dem Klopfenden und ging zum Telephon.
    Es war Mariella, die aus der Stadt
anrief, um ihn zu einem Abendessen einzuladen. Adrian dankte und sagte, er
werde sehr gern kommen.
    Dann erklärte er ihr, warum es ihm
unmöglich sei, wie üblich, ein längeres Gespräch zu führen, er habe
verschlafen, zudem klopfe es an der Haustür, und hängte ab. Aber das Klopfen
hatte aufgehört. Er ging zur Tür und sah, daß es nur der Briefträger gewesen
war. Er mußte also wohl später aufgestanden sein, als er es gewöhnlich zu tun
pflegte. Seine Uhr war stehengeblieben. Er hatte — wie so oft in diesen Tagen —
vergessen, sie aufzuziehen. Er nahm die Post aus dem Kasten. Sie bestand aus
einer vierseitigen Drucksache, die ihn zum Kauf irgendwelcher im Preis stark
ermäßigter Gegenstände aufforderte, und einem Paket, wahrscheinlich einem Buch
zur Besprechung. Adrian hatte einige dringende Briefe erwartet, aber so war es
auch gut. Er warf die Aufforderung in den Papierkorb und steckte das Buch in
die Tasche seines Mantels, um es in der Eisenbahn zu lesen. Dann ging er zum
Schrank, um sich mit Sorgfalt anzukleiden.
    Um in die Stadt zu gelangen, die Adrian
einmal in der Woche zu besuchen pflegte, mußte er die fünf Kilometer bis zum
nächsten Marktflecken zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen und von dort eine
Stunde mit der Eisenbahn fahren. Es war ein besonders warmer Novembermorgen. In
der Frühe hatte noch Rauhreif gelegen, aber die Luft war voll spätsommerlicher
Würze, und so war es Adrians Absicht gewesen, die fünf Kilometer zu laufen. Nun
jedoch, da er sich verspätet hatte, fuhr er mit dem Rad. Als er aber an der
Dorfkirche vorbeikam, sah er auf der Turmuhr, daß es nicht später war als
gewöhnlich, er also hätte zu Fuß gehen können. Deshalb fuhr er langsam; es
galt, die letzte Wärme zu genießen, die das fallende Jahr noch zu bieten hatte.
Erst als er am Bahnhof anlangte und erfuhr, daß er den Zug versäumt hatte,
erinnerte er sich, daß die Turmuhr bereits vor geraumer Zeit stehengeblieben
war, wahrscheinlich sogar seit einigen Monaten kein Werk mehr hatte.
    Auf der Auskunftstafel las er, daß der
nächste Zug in einer Stunde fahre. Er brachte sein Rad zum Aufbewahrungsschuppen
und ging in das gegenüberliegende Gasthaus.
    Während er hier in der leeren
Schankstube saß, den Rücken gegen den Kachelofen

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