Lieblose Legenden
ausgestreckt, und von dem
Enzian trank, den er sich bestellt hatte, überkam ihn ein Gefühl der Ruhe, wie
er es seit Tagen — ja, es schienen Monate — nicht mehr erfahren hatte. Er
räkelte sich in körperlichem Wohlsein wie in einem warmen Bad und sah hinaus in
die Novembersonne, die durch die Baumskelette in die Stube schien.
Plötzlich tauchte ein unwillkommener
Gedanke auf. Er suchte ihn zu erhaschen — was war es noch? — und nach wenigen
Minuten gelang es ihm: Marielia. Er hatte Datum und Zeit ihrer
Abendgesellschaft vergessen, oder vielmehr, er hatte wieder einmal nicht recht
zugehört. Er würde sie noch einmal anrufen müssen; nur nicht gerade jetzt. Er
wollte das Wohlsein nicht unterbrechen, diesen unerwarteten Urlaub. Aber er war
aufgestört; die wirkliche Ruhe kehrte nicht wieder.
Als es ihm an der Zeit schien, stand er
auf und ging zum Bahnhof. Weder Reisende noch Bahnbeamte waren zu sehen.
Außerhalb des Bahnhofs liefen zwei Jungen auf den Schienen und versuchten,
einen Drachen steigen zu lassen. Sonst war alles still. Auf dem Rangiergeleis standen zwei Güterwagen. Sie hatten schon
immer da gestanden. »Heimatbahnhof Kassel« stand auf ihnen geschrieben. Wie
mochten sie hierhergekommen sein, dachte Adrian.
Er wartete einige Minuten, ging dann
zum Schalter und fragte dort, ob der Zug um zehn Uhr einundvierzig nicht mehr
verkehre. Der Beamte sah ihn einen Augenblick schweigend an und sagte dann — seine
Stimme klang traurig aber streng, und ein wenig befriedigt, eine ungünstige
Auskunft erteilen zu können, — daß dieser Zug niemals wochentags verkehrt habe,
sondern nur sonntags. Bleute indessen sei Dienstag. Dazu käme, daß er nur im
Sommer verkehre, denn es handle sich um einen Aussichtstriebwagen. All das sei,
wenn der Herr zu lesen verstehe, aus der Tafel ersichtlich.
»So so , ein
Aussichtstriebwagen«, sagte Adrian, und da er sich plötzlich, wie oft in
Situationen kleiner Verzweiflung, zum Scherzen aufgelegt fühlte, sagte er, daß
bei ihm der Aussichtstrieb nicht stark entwickelt sei. Aber der Mann hatte sein
Fenster zugeklappt. Der Kontakt mit der Beamtenwelt war wieder abgebrochen.
Adrian ging zur Auskunftstafel, um
nunmehr einen Zug ausfindig zu machen, der auch im Winter verkehre, und fand
einen. Die gekreuzten Hämmer hinter der Abfahrtszeit, siebzehn Uhr
siebenundfünfzig, wiesen darauf hin, daß er auch wochentags fahre. Soviel immerhin
wußte er.
Nun ging er zurück ins Gasthaus, zwar
mit einem Gefühl der Unruhe — denn jetzt waren alle Verabredungen hinfällig
geworden — aber doch auch leichten Herzens, denn er gedachte, sich wieder in
den Urlaubszustand hineinzusteigern, ihn künstlich fortzusetzen. Erklärungen
und Entschuldigungen — das käme später. Falls Marielias Gesellschaft schon
heute abend stattfände, was natürlich möglich war, würde er noch zur rechten
Zeit kommen. Denn diese durfte er nicht versäumen. Sie war wichtiger als alles
andere. Er würde Marielia anrufen. Aber nicht jetzt, nicht gerade jetzt.
In der Schankstube setzte er sich
wieder auf denselben Platz und bestellte bei der Wirtin Mittagessen. Sie war
froh, ihn wieder zu sehen, denn er hatte vergessen, den Enzian zu bezahlen. Auf
die Frage, was er essen wolle, antwortete er vergnügt, er sei so hungrig, er
könne ein ganzes Pferd verschlingen. Die Wirtin sagte, das gäbe es nicht. Dann,
sagte Adrian, wolle er sich innerhalb der Grenzen des Gebotenen halten. Das
Gebotene war Schnitzel.
Während Adrian auf das Essen wartete,
fiel ihm das Buch in seiner Manteltasche ein. Er packte es aus. Es hieß »Auf
Pfaden der Sonne«. Er öffnete es mißmutig. Auf dem Schutzumschlag stand: »Diese
Sammlung echter Naturlyrik wird allen, denen die Hetze des Alltags...« Er legte
das Buch aus der Hand.
Als die Wirtin das Mittagessen brachte,
fragte er sie, ob es ein Telephon im Hause gäbe. Es gab keines. Er atmete auf,
war sich des Aufatmens jedoch nicht bewußt.
Der späte Nachmittag fand Adrian noch
im Gasthaus. Der Himmel hatte sich verhängt, und in der Richtung des Gebirges
deutete die Wolkenlage auf Schneefall hin. Die Bergspitzen waren verhüllt.
Adrian hatte in der leeren Schankstube gesessen und, um sein wachsendes
Unbehagen zu stillen, mehrere Gläser Enzian getrunken. Diese hatten ihn müde
gemacht. Zu dem Entschluß, noch in der späten Dämmerung eine Stunde in der
Eisenbahn zu sitzen, hatte er sich nicht durchringen können. Er hatte es einen
Augenblick mit den »Pfaden der Sonne«
Weitere Kostenlose Bücher