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Lieblose Legenden

Lieblose Legenden

Titel: Lieblose Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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versucht, aber der darin zutage tretende
Reichtum an Gemüt hatte ihn in dumpfe Unlust versetzt. So hatte er die Wirtin
gebeten, ihm ein Zimmer anzuweisen, und als der Nachmittagszug den Bahnhof
verließ, lag Adrian in tiefem Schlaf.
    Als er am nächsten Tage erwachte, lag
hoher Schnee. Um ihn war alles weiß, milde und still. Seine Ruhe war
zurückgekehrt. Er kleidete sich an und ging hinunter. Dort teilte ihm die
Wirtin mit, während sie das Frühstück auf den Tisch stellte, daß wegen des
plötzlichen, unerwarteten Schneefalls die Bahn den Verkehr in dieser Gegend
habe einstellen müssen. Adrian nahm diese Nachricht mit Ruhe auf und bat sie,
sein Zimmer zu heizen.
    Am Nachmittag dachte er daran, vom
Bahnhof in die Stadt zu telephonieren, um seinen Bekannten, und vor allem
Marielia, die Lage zu erklären, aber nach einiger Überlegung sah er von diesem
Plan ab. Das hätte er gestern tun müssen, als unmittelbare und — wie er sich
jetzt eingestand — eigentlich selbstverständliche Reaktion auf dieses
ungewöhnliche Zusammentreffen von Zufall und Nachlässigkeit. Nun waren die
Verabredungen ohnehin längst hinfällig, die Abendgesellschaft vielleicht
vorbei. Bei dem Gedanken an die Sorgen, die man sich seinethalben machen
mochte, wurde er beinahe vergnügt. Für die nächste Zeit hierbleiben — dazu
bedurfte es keines Entschlusses. Wenn die Eisenbahn nicht verkehrte, waren die
Straßen erst recht nicht befahrbar.
    Aber am nächsten Tage setzte sich der
Gedanke an Marielia fest und ließ sich nicht verdrängen. Er beschloß, sie
anzurufen und watete durch den Schnee zum Bahnhof. Hier waren einige Arbeiter
dabei, die Eisengitter, die den Bahnsteig von der Landstraße trennten, zu
entfernen. Im tiefen Schnee ging ihre Arbeit lautlos von der Hand, ihr Atem
dampfte. Die Telephonzelle, ehemals in das Gitter eingelassen, war
verschwunden. Nachdenklich kehrte Adrian ins Gasthaus zurück. Er beschloß, über
diesen Umstand keine Erkundigungen anzustellen.
    Zwei Tage später ging Adrian durch das
verschneite Städtchen, um einiges einzukaufen. Dabei fiel ihm ein Mangel an
Geschäftigkeit auf. Es waren wenig Leute auf den Straßen zu sehen. Er erklärte
sich dies mit dem hohen Schnee. Als er aber später seine Beobachtung der Wirtin
mitteilte, sagte sie, das Städtchen habe innerhalb der letzten Monate an
Bevölkerung verloren, da die Erwerbsmöglichkeiten immer geringer würden. Auch
sie werde bald weggehen.
    Wie wäre es, dachte Adrian, in einem
ausgestorbenen Marktflecken zu leben? Der Gedanke an solch seltsame,
freiwillige Vereinsamung gab zu der Art phantastischer Vorstellungen Anlaß, bei
denen er oft und gern verweilte. Dennoch beschloß er — ganz unverbindlich — sich
einmal wieder die Auskunftstafel zu besehen. Den Entschluß zu reisen werde er
sich Vorbehalten. Und eines Tages — es war wieder wärmer und es hatte getaut — ging
er hinüber zum Bahnhof. Die Auskunftstafel war verschwunden. Er klopfte an den
Schalter. Niemand öffnete. Beunruhigt ging er durch die offene Sperre auf den
Bahnsteig. Hier waren einige Arbeiter dabei, die Schienen abzumontieren.
    »Was machen Sie denn da ?« rief er, als gelte es, jemanden von einer unüberlegten
Tat abzuhalten. Nun erfuhr Adrian, daß, infolge mangelnder Benützung der
Bahnlinie, das Netz verlegt werde. Das Städtchen läge also in Zukunft nicht
mehr an der Eisenbahn. Und in der Tat, das Bahnhofsgelände war bereits verödet,
ein Teil des Gebäudes abgetragen, das Glas aus den Fenstern entfernt, die, nun
schwarze Löcher, ihm das Aussehen einer Ruine gaben. Die Plakate waren
abgerissen, die mannigfachen Verbotstafeln entfernt. Auch die beiden Güterwagen
waren verschwunden. Sie waren wohl in ihre Heimat zurückgekehrt, nach Kassel.
    Nun packte ihn Angst. Er eilte zum
Aufbewahrungsschuppen, um sein Fahrrad zu holen. Es stand noch da, naß und
verdreckt. Er riß es an sich und fuhr davon, ohne sich umzusehen; zuerst einige
beschwerliche Kilometer auf schlammigen Feldwegen, dann bog er jenseits der
ehemaligen Unterführung — hier waren die Geleise schon entfernt – in die Landstraße
ein, in der Richtung auf die Stadt zu, wo   er nach mehreren Stunden anlangte. Seine Kehle
war ausgetrocknet, der Schweiß lief ihm von den Schläfen. Wie ein Nachtwandler
fuhr er, weder auf Verkehrslichter noch auf Passanten achtend,
    auf
Mariellas Haus zu. Er lehnte das Fahrrad an die Wand und klingelte stürmisch an
der Haustür. Nach einer Weile wurde sie geöffnet; es war

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