Lieblose Legenden
wuchs. Nach einiger Zeit stieß
ich auf der anderen Seite durch und konnte mit Hilfe des einbrechenden
Lichtkegels die Lage im Schlafzimmer meiner Nachbarn überblicken. Sie hießen Gießlich , heißen wohl immer noch so und sind auch in
gewissem Sinne wieder meine Nachbarn. Es waren modern eingestellte, dabei
rechtschaffene Leute, aber diese letztere Eigenschaft hat sich nun wohl ein
wenig geändert — und zwar zugunsten der ersten Eigenschaft — , und ich will meine Schuld daran nicht leugnen.
Beide hatten sich in den Betten
aufgerichtet, schalteten das Licht an und begrüßten mich erstaunt, aber nicht
unfreundlich; ja, ich muß sagen, sie legten eine gewisse liebevolle Nachsicht
zur Schau, wie sie Künstler nur selten von seiten bürgerlicher Mitmenschen
erfahren, vor allem in solch ungewöhnlichen Situationen. Vielleicht waren sie
sich beim Erwachen sofort ihrer Modernität bewußt geworden. Ich grüßte aus
Verlegenheit zunächst nur kurz und hämmerte weiter, bis die Öffnung die Ausmaße
erreicht hatte, die sie auch jetzt noch hat. Dann fragte ich etwas unbeholfen:
»Darf ich näher treten ?« und schob mich, ohne die
Antwort abzuwarten, hindurch.
Nachdem ich mir mit der Hand den
Betonstaub von den Schultern gebürstet hatte, um diesen nächtlichen Auftritt
nicht allzu improvisiert erscheinen zu lassen, sagte ich: »Bitte, entschuldigen
Sie die Störung zu so später Stunde; aber ich bin gekommen, um Sie zu einem
Atelierfest einzuladen, das heute Nacht bei mir stattfindet.« Pause. »Es geht
sehr lustig zu .«
Die Gießlichs sahen einander an, eine Reaktion, der ich mit Erleichterung entnahm, daß meine
Einladung als Gegenstand der Erörterung gelten durfte. Ich wollte sofort wieder
einhaken, aber da sagte Herr Gießlich mit einem, wie
mir schien, etwas süßlichen Lächeln, daß er mir zwar für die freundliche
Einladung danke, aber daß ein Ehepaar in ihren Jahren, wenn auch modern
eingestellt, doch wohl kaum mehr so recht in eine Versammlung von Menschen
gehöre, deren gemeinsame Lebensaufgabe — nämlich die Kunst — auch ein
gemeinsames Schicksal bedinge, welches sie — die Gießlichs — nun einmal nicht teilen. Aber gerade, sagte ich, Künstler haben ja eben die
Eigenschaft, jeden Außenstehenden sogleich spüren zu lassen, daß er bei ihnen
zu Hause sei; außerdem gäbe es bei mir da drüben eine bunte Mischung von
Gästen, von adeligen Mäzenen bis zu einfachen Handwerkern. Ich entfaltete zum
erstenmal in dieser Nacht eine gewaltige Beredsamkeit, mit der ich auch
schließlich die Gießlichs für das Fest zu erwärmen
vermochte, ja, es gelang mir sogar, sie zu überreden, sich nicht erst
anzuziehen und in Nachtgewändern hinüberzuschlüpfen, indem ich sagte, drüben
seien alle recht leicht bekleidet. Das war zwar eine Lüge, aber ich verspürte
das wachsende Bedürfnis, nun endlich allein zu sein.
Sie standen von ihren Betten auf. Herr Gießlich hatte einen gestreiften Pyjama an, sie trug ein
Nachthemd. Er half ihr in den Morgenrock wie in einen Abendmantel und lief, nun
schon ungeduldig, auf und ab, während sie sich vor ihrem Toilettenspiegel das
Haar kämmte. Es war mir also tatsächlich gelungen, in ihnen Feuer und Flamme zu
entfachen; nachträglich fragte ich mich, welche der Verlockungen wohl den
Ausschlag gegeben hatte: die menschenfreundlichen Eigenschaften der Künstler?
Oder die Gegenwart adliger Mäzene? Wenn ich durch das Loch schaue, denke ich
allerdings, daß es wohl doch die Sache mit der leichten Bekleidung war, die in
erschreckendem Maße zur Wahrheit wird.
Zuerst zwängte sich Herr Gießlich durch das Loch. Er muß drüben sofort festen Fuß
gefaßt haben; denn er reichte von dort galant seiner Frau die Hand, als helfe
er ihr, die hohen Stufen einer Droschke zu erklimmen. Ich mußte an meiner Seite
zupacken; denn Frau Gießlichs Umfang war beträchtlich,
ist es übrigens heute noch. Aber auch sie hatte sicheren Boden ereicht. Ich war
allein.
Unter einigem Kraftaufwand schob ich
den schweren Kleiderschrank vor das Loch, wo er heute noch steht.
Nun wurde es wesentlich ruhiger; denn
die Kleider im Schrank dämpften den Schall. Zudem war vielleicht auch Ermattung
auf dem Fest eingetreten, eine ruhigere Periode zwischen zwei Höhepunkten.
Erschöpft ließ ich mich auf eines der
beiden Betten sinken und versuchte meine Situation zu überdenken, aber ich war
zu müde und kam über die Verarbeitung unmittelbarer Eindrücke nicht mehr
hinaus, hatte schließlich auch einen
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