Lied aus der Vergangenheit
keineswegs frischer oder unschuldiger. Naiv, das ja. Sie bemühte sich, kultivierter zu erscheinen, als sie tatsächlich war. Ich war durchaus froh, sie um mich zu haben, sie war praktisch nicht imstande, mich zu irritieren. Jedes Mal, wenn sich die Tür hinter ihr schloss, füllte sich der Raum augenblicklich wieder, sie hinterließ keinerlei Vakuum. In ihrer Abwesenheit galten meine Gedanken nicht ihr. Saffia dagegen war bereits in meine Träume getreten.
Vanessa träumte davon, die Frau eines Professors zu sein, das war ihr Ziel. Und eines Tages würde sie es vielleicht auch erreichen, obwohl sie sich zu leicht hingab. Ich wünschte ihr alles Gute. Ich lag, die Kissen im Rücken, da und schaute ihr zu, wie sie versuchte, sich einen Platz in meinem Leben zu schaffen. Es war eigentlich schade, sagte ich mir, aber irgendwann, in nicht allzu langer Zeit, würde ich aufhören müssen, mich mit ihr zu treffen.
2
Die Frau saß verkantet auf dem Stuhl, Adrian gegenüber: Knie zusammen, Arme an die Seiten gepresst, Schultern nach vorne, Füße eingezogen. Ein Zickzack auf einem Metallstuhl. An ihren Knochen spärliches Fleisch. Sie trug einen Wickelrock mit verblassten gelb-schwarzen geometrischen Mustern. Ihre Brüste waren von einer weiten Bluse bedeckt. Adrian konnte ihr Alter nicht einschätzen. Die Menschen hier erschienen ihm alterslos. Sie redete ihn mit »Doktor« an, beantwortete seine Fragen mit einer tonlosen Stimme, so leise, dass er sich anstrengen musste, um sie zu verstehen. Nicht ein einziges Mal sah sie ihm in die Augen, sondern musterte ihre Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. Sie klagte über Kopfweh und wollte Medizin gegen die Schmerzen, aber die Ärzte hatten nichts feststellen können. Also hatte man sie zu ihm geschickt.
Adrian erklärte, was er für sie tun konnte, suchte nach Worten, die sie, wie er hoffte, verstehen würde. Auf dem Blatt, das vor ihm lag, stand ihr Name. Er sprach ihn laut aus. Zum ersten Mal schaute sie ihn an. Sie zeigte auf ein Fläschchen Vitaminkapseln, das auf seinem Schreibtisch stand, also gab er es ihr. Das war keine große Sache.
Nachts hatte Adrian Lockheart einen Traum gehabt. Einen der wenigen, seit er in diesem Land war. Er stand am Rand eines Wasserfalls, vornübergebeugt, Oberkörper über dem rauschenden Wasser. Unten konnte er jenseits des Wassersturzes nichts sehen. Im Traum war er wieder ein Kind. Er breitete die Arme aus und machte einen Kopfsprung und wachte gerade in dem Moment auf, da ihn das fallende Wasser verschlungen hätte. Es war kein Traum vom Sterben, denn er wachte leise lachend auf.
Ein Echo des Gefühls kehrt jetzt zu ihm zurück, während er dasitzt und aus dem Fenster starrt und seine Gedanken auf dem Gezeitenstrom der Stimme des alten Mannes treiben, der in dem Bett liegt. Ein Kindergesicht erschien über der Mauerkrone, das grinsende Gesicht eines Kindes. Die Augen begegneten Adrians Augen. Einen Moment später war das Gesicht verschwunden. Dann war ein Lachen zu hören, und eine Erinnerung an den Traum stieg in ihm auf. Das Gefühl zu fallen, der Magen, der sich hebt, die Freude, die aus einem unschuldigen körperlichen Vergnügen erwächst. Er wendet sich zu dem alten Mann, der, die Arme über dem Baumwolllaken ausgestreckt an die Seiten seines Körpers gepresst, daliegt. Der alte Mann hat aufgehört zu sprechen und beobachtet ihn. Seine von Vorhängen aschgrauer Haut umgebenen Augen sind klein, dunkel und wasserblank.
Adrian schweigt noch ein paar Sekunden; er hofft, seine Gedankenabwesenheit wird wie Besonnenheit wirken, ein Augenblick des Nachdenkens.
»Soll ich morgen wiederkommen?«
Der alte Mann neigt den Kopf und fährt fort, ihn zu beobachten.
Adrian, der eigentlich an derlei gewöhnt sein müsste, fühlt sich unbehaglich. Reflexartig fährt er fort: »Brauchen Sie irgendetwas? Bücher? Zeitungen? Ich arrangiere das für Sie.«
»Danke. Ich habe alles.« Die Stimme ist heiser. Die Worte werden vom Anflug eines Lächelns begleitet, einer Anspannung der Gesichtsmuskulatur, einem Strecken der Lippen, dem Anschein nach eher Schmerz als Freude.
»Gut dann.«
Mittag. Adrian steht auf, nimmt seinen Aktenkoffer und sein Jackett und geht hinaus auf den Korridor, wo die Luft um ein, zwei Grad kühler ist. Das Gebäude hat keine Klimaanlage außer auf der Intensivstation, und selbst dort scheint sie einen aussichtslosen Kampf gegen die glühende Luft zu führen, die durch jede Ritze im Mauerwerk eindringt. Er atmet tief
Weitere Kostenlose Bücher