Lied aus der Vergangenheit
jemand anderen. Adrian hatte die Zeitungsartikel gelesen, die nach dem Konflikt veröffentlichten Berichte. Er wusste, wie der Krieg angefangen hatte – mit der kaum zur Kenntnis genommenen Invasion eines kleinen Kontingents von im Ausland ausgebildeten Rebellen, die schon bald ihre Anwesenheit durch die Einnahme mehrerer Städte kundgetan und geschworen hatten, zur Hauptstadt zu marschieren und die aufgeblähte Diktatur zu stürzen, die schon seit zwanzig Jahren regierte. Und er wusste, wie er geendet hatte – wusste, dass die Zivilbevölkerung von Anfang an am meisten unter der Raserei der Rebellen zu leiden gehabt hatte und ihre Qualen ein Jahrzehnt angedauert hatten, bis der Krieg von der Armee eines Nachbarlandes mit einem eigenen ehrgeizigen Despoten beendet worden war.
Adrians Mitgefühl klang selbst in seinen eigenen Ohren oberflächlich, nicht überzeugend. Also stupste er seine Patienten mit Fragen weiter und spürte durchaus, wie viel Energie es ihn kostete, auch nur einen Funken Vertrauen zu gewinnen. Später, in seiner Wohnung, spritzte er sich Wasser ins Gesicht. Einmal füllte er das Waschbecken und tauchte das Gesicht ins Wasser, hielt die Luft an, bis seine Lungen schmerzten. Allein, wartete er darauf, dass seine Gedanken wieder zu sich fanden, dass seine erschütterte Seele zur Ruhe kam.
Und am Ende bat jeder seiner neuen Patienten unweigerlich um Medizin, worauf Adrian erklärte, er sei nicht diese Sorte Arzt. Ein Nicken, ein Hinnehmen eher als ein Begreifen. Sie dankten ihm und gingen. Keiner von ihnen kam je wieder.
Eines Samstagnachmittags ging Adrian an einer Reihe von Marktständen im Viertel hinter dem Krankenhaus entlang. Eine Frau rief nach ihm – er drehte sich um, erkannte sie an ihrem gelb-schwarz bedruckten Wickelrock. Automatisch lächelte Adrian und hob die Hand zum Gruß. Die Frau kam mit dem unsicheren Gang einer Marionette auf ihn zu. Ein feuchter Fleck zog sich vorn über ihre Bluse hin, deren oberste Knöpfe offen standen und einen Teil ihrer dunklen Brustwarze hervorschauen ließen.
»Doktor!«, hatte sie gerufen und ihn am Arm gepackt. Ihr Atem war heiß. Er verstand nicht, was sie sagte, wünschte, er könnte sich an ihren Namen erinnern. Sie verlor kurz den Halt, taumelte und fiel gegen ihn. Ein Passant, ein Mann wohl über fünfzig, schritt ein und packte die Frau am Arm. Die Frau stieß einen Schrei aus, und als sie sich loszureißen versuchte, fiel sie nach hinten und schlug schwer auf dem Boden auf, um dann zwischen den Beinen der Schaulustigen davonzukrabbeln. Der Mann wischte über Adrians Arm, als wollte er die Berührung der Frau entfernen.
»Tut mir leid, tut mir leid! Diese Frau ist eine Verrückte. Keine Familie.« Und tippte sich mit dem Finger leicht an die Schläfe, ein auffliegender Schmetterling.
Adrian schüttelte den Kopf, durcheinander, enttäuscht von seiner eigenen missglückten Reaktion; doch als er sich nach der Frau umschaute, war sie verschwunden.
Er denkt manchmal an sie, denkt jetzt an sie, während er am offenen Fenster steht. Tagelang hatte er auf sie gewartet. Doch sie war nie gekommen.
Es ist fast eins. Mittagszeit. Neuerdings nimmt er die Uhrzeiten von Frühstück, Mittag- und Abendessen sehr bewusst wahr. Die Mahlzeiten sind jetzt mehr als bloße Satzzeichen in seinem Tagesablauf, sie sind zu eigenständigen Ereignissen geworden. Als er ein junger Mann war und seine Ausbildung im Krankenhaus machte, kam es gelegentlich vor, dass er ganz zu essen vergaß. Während er an seiner Dissertation arbeitete, musste er sich gewaltsam von den Büchern losreißen, um rasch über die Straße zu laufen und sich in der Imbissstube gegenüber ein Stück Pizza zu holen; nicht bereit, auch nur die paar Minuten zu opfern, die der griechische Besitzer gebraucht hätte, um sie aufzuwärmen, aß er sie so, wie sie war, während er zu seinem Arbeitszimmer zurückkehrte, kalten geronnenen Käse und gekräuselten Schinken.
Er schließt das Fenster, sperrt die Geräusche aus. An seinen Handflächen ist Staub von der Fensterbank, ein feiner roter allgegenwärtiger Staub, der alles bedeckt. Zu dieser Jahreszeit liegt er ständig in der Luft, ein roter Nebel, der die Hügel hinter der Stadt verdunkelt, über dem Horizont schwebt. Adrian spürt den Staub bei jedem Atemzug in seinem Rachen; Haut und Nase jucken, der Wind saugt alle Feuchtigkeit aus den Poren. Er holt das Taschentuch aus der Tasche, er hat sich wieder angewöhnt, immer eins dabeizuhaben,
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