Lied aus der Vergangenheit
vorstellen, dass es vielleicht doch seine Idee gewesen war: die Fahrt zum Geschäft, um das Flugzeug auszusuchen, die Rückfahrt mit der eingepackten Schachtel in den Händen, das Ausbreiten der Teile auf dem polierten Rosenholztisch, all diese Dinge deuten auf die Fantasielosigkeit und Gefallsucht eines Kindes hin. Seine Mutter, die an ihrem Schreibtisch ihre Korrespondenz erledigte und sie beide mit abgewendeten Augen beobachtete.
Das Modell ist allerdings eine Lancaster B III. Adrians Wahl wäre vorhersagbarer gewesen. Eine Spitfire etwa. Sein Vater erzählt ihm, dass die Lancaster zwei Jahre vor Ende des Krieges Angriffe auf deutsche Talsperren geflogen hatten. Adrian schaut seinem Vater bei dessen Bastelversuchen zu und weiß, dass er nicht helfen darf. Es gibt Gelegenheiten, da sich ein Eingreifen als Sohnespflicht kaschieren lässt: seines Vaters Frühstücksgeschirr abräumen, einen widerspenstigen Manschettenknopf durch das Loch stecken. Aber wenn sein Vater über seine Schnürsenkel gebeugt saß, sah Adrian keine andere Möglichkeit, als zuzuschauen, wie der Knoten ihm immer und immer wieder durch die Finger schlüpfte. Manchmal kam Adrians Mutter zu Hilfe. Adrian bemerkte, dass sein Vater sich, sobald sie fertig war, steif und wortlos aus dem Sessel stemmte und das Zimmer verließ.
Also sitzt er schweigend da und beobachtet seines Vaters Hände. Während der Vater wiederum die Anwesenheit seines Sohnes vergessen zu haben scheint, sich abmüht, die Teile mit Fingern festzuhalten, die wie die Flügel eines Falters zittern und flattern. Eine andere Erinnerung überlagert die erste. Wie er mit seinem Vater auf der Suche nach Ley-Linien – oder waren es unterirdische Wasseradern? – durch den Wald ging. Jeder mit einer gegabelten Rute in den Händen. Sein Entzücken, wenn die Rute in den Händen seines Vaters zu zittern begann.
Bereits in den ersten Tagen nach seiner Ankunft in dem neuen Land hatte die Zeit, ohne die Ordnung seines bisherigen Lebens, eine gewisse Formlosigkeit angenommen. In den Anfangstagen war er voller Interesse für seine neue Umgebung aufgestanden. Jede Tätigkeit im Verlauf eines Tages, wie klein sie auch sein mochte, besaß ihren Stellenwert. Unter dem dürftigen Getröpfel, das kaum seine Schultern benetzte, zu duschen. Das Geräusch seiner Schritte, die in den Korridoren hallten. Die Zeit, die er damit verbrachte, die schäbigen Möbel in seinem Arbeitszimmer umzuräumen. Jede Aktivität besaß ihre eigene Wertigkeit, Tonhöhe und Resonanz, wie der Ton einer Stimmgabel. Doch während die Tage vergingen, verschwand die Resonanz.
Frühstück in der Kantine, und er beobachtete, wie seine Kollegen, jeder mit einem Nicken, kamen und gingen. Er kannte ihre Namen, Gesichter, ihre Aufgaben. Mit manchen hatte er nach Dienstschluss in einer Bar in der Nähe ein Bier getrunken, wobei unweigerlich jemand zu spät gekommen oder ein Glas ungeleert geblieben war, weil jemand wegen eines weiteren Notfalls schleunigst zurückmusste. Zu den Essenszeiten saß er vor einer Tasse Instantkaffee und sah zu, wie die Ranken aus Dampf immer dünner wurden und sich verflüchtigten, während die anderen im Raum sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten.
Zu anderen Zeiten ging er die langen Krankensäle ab. Sah die Insassen eines überfüllten Minibusses mit einem jungen Mann am Steuer, der eine Sechzehnstundenschicht hinter sich und den Kopf voll Marihuana hatte, begegnete dem blinden Blick eines Mannes, unter dem ein Bambusbaugerüst zusammengebrochen war, sah apathischen Müttern dabei zu, wie sie reglosen Babys Luft zufächelten.
Drei Wochen nach seiner Ankunft sah Adrian seine ersten Patienten. Das, nachdem er die Einwilligung der Krankenhausverwaltung in ein internes Überweisungssystem erhalten hatte. Die Leute, die seine Kollegen ihm schickten, waren größtenteils ambulante Patienten, solche, bei denen die Ärzte nichts feststellen konnten. Sie saßen mit runden Schultern und gesenkten Augen da, die Hände im Schoß eingerollt wie fügsame Haustierchen. Was führt Sie hierher? Der Doktor hat mich zu Ihnen geschickt. Von Adrian sanft ermutigt, sprachen sie von Kopfschmerzen, Schmerzen in den Armen, Beinen, im Unterleib. Hier, hier, hier. Berührten Körperteile. Wann hatten die Schmerzen angefangen? Irgendwann nach der Sache. Ja, davor war ich gesund.
Auf Adrians Nachbohren hin erzählten sie mit gedämpfter Stimme, was sie durchgemacht hatten, so als beträfen die geschilderten Ereignisse
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