Lied der Wale
darauf ansprach, behalf sie sich mit einer Notlüge: So wie sie ersticke auch er gerade in Arbeit. Beim Abendessen versuchte Leah immer wieder, ihrem Sohn vorsichtig auf den Zahn zu fühlen, wie er wirklich zu Geoffrey stünde. Er solle ihr bloß den Gefallen tun und die Wahrheit sagen, nicht das, von dem er annehmen musste, dass sie es hören wolle. Und immer wieder – egal, in welch trickreichen Varianten sie das leidige Thema aufgriff – tat Michael ihrden Gefallen: Alles super, Mami. Geoffrey ist cool. Total korrekter Typ.
Sobald Michael im Bett war, stürzte sie sich ins Internet, auf der Suche nach der »Hikari«, doch sie kam nicht recht weiter. Gemäß dem internationalen Übereinkommen über die hohe See, verfasst von der Seerechtkonferenz der Vereinten Nationen 1958 in Genf, konnte man den Kapitän und die Mannschaftsmitglieder nur in dem Land strafrechtlich belangen, unter dessen Flagge das Schiff gemeldet war. Oder in jenem, dessen Staatsangehörigkeit die betreffenden Personen besaßen. Und man hätte wissen müssen, welcher Staat das Kapitänspatent und andere Urkunden ausgestellt hatte, um sie den jeweiligen Personen entziehen zu lassen.
Die »Hikari« fuhr unter panamaischer Flagge, das hatte sie herausfinden können, aber all ihre unzähligen E-Mails und Faxe an die Behörden dort blieben unbeantwortet. Der Kapitän, dessen Namen sie nicht kannte, war angeblich Japaner, aber nicht mal das war sicher. Die E-Mails an das Fischereiministerium wurden prompt und höflichst beantwortet. Sie solle sich an diese oder jene andere Instanz wenden, teilte man ihr mit, und als sie dies tat, wurde sie erneut auf die Suche geschickt. Möglicherweise war das Taktik, doch Leah musste auch zugeben, dass sie kaum etwas in der Hand hatte. Durch einen Zufall kam ihr Susan zu Hilfe. Sie begleitete Leah zum Bus, um Michael ins Camp zu verabschieden, und Leah erzählte ihr auf dem Spazierweg nach Hause von ihrer Sisyphusarbeit. Susan rief sofort eine frühere Flamme an, der wiederum jemanden im U. S. State Department of Transportation kannte, und der kannte jemanden bei der U. S. Coast Guard, wo sie angeblich ihre Mittel und Wege hatten, sich so eine Auskunft zu beschaffen.
Beim Thema David war Susan weniger behilflich.
»Du hast ein Rad ab, weißt du das? O. k., du hast ihn vernascht,das war schon längst fällig, aber deswegen gleich mit Geoffrey Schluss zu machen?!«
Susan blieb die Nacht über bei Leah und war mächtig bemüht, ihr den Kopf zu waschen. In der Tat hatte sie sich bereits vor Tagen mit Geoffrey getroffen, und sie war hin und weg, wie tolerant, wie großzügig der Mann mit der Situation umging. Leah wollte wissen, ob Geoffrey versucht hatte, hinter ihrem Rücken Susan auf seine Seite zu ziehen, doch dem war offenbar nicht so.
» Ich hab ihn angerufen, sorry, auch wenn du jetzt fremdvögelst, bleibt er trotzdem mein Freund. Ich wollte einfach wissen, wie es ihm geht.«
»Und was sagt er?«
»Jedenfalls kein negatives Wort über dich. Er kommt damit klar und will dir Zeit lassen. So einen Mann möchte ich auch mal treffen, dann besorg ich mir Handschellen, kette ihn an mich und werfe den Schlüssel in den Potomac.«
Ihre Mutter war nie besonders in Geoffrey vernarrt gewesen, wollte sich aber diesbezüglich nicht einmischen. Leah war im Zweifel, ob die Zurückhaltung als erzieherische Maßnahme galt, damit sie ihr Leben unbeeinflusst von anderen gestalten konnte, oder nur von deutlichem Mangel an Interesse zeugte. Wenn Letzteres stimmte, dann betraf dies zumindest nicht Leahs Garderobe. Denn ihre Ma lieh sich zunehmend mehr Kleider und Röcke von ihr mit immer kürzerem Saum, schien nicht mal vor den engsten Tops haltmachen zu wollen. Als sie sich auch noch die Haare färben ließ, war sich Leah endgültig sicher: Der neue Bridgepartner ihrer Mutter war nicht nur jünger als sie, sondern auch nicht nur ihr Bridgepartner. Doch auch bei diesem Thema war ihre Mutter ihr gegenüber äußerst zurückhaltend. »Könnte ich ihn nicht mal kennenlernen? Ihn wenigstens auf einen Drink treffen, Ma, was ist schon dabei?«
»Weißt du, Liebes, wir sind auf sämtlichen Turnieren, ich wüsste wirklich nicht, wann. Aber vielleicht könnte ich die Bluse da mal probieren, oder macht sie mich zu blass?«
E r hatte mindestens zehn Kilo abgenommen, und mit den nachwachsenden grauen Stoppelhaaren wirkte David fast greisenhaft. Sie sah, wie er sich am Gate suchend nach ihr umschaute, und rannte ihm entgegen.
»Da
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