Lied der Wale
legte auch diese um ihre Schultern.
Masao steuerte derweil auf die »SeaSpirit« zu. Der Hubschrauber entfernte sich, und damit sank der Lärmpegel wieder auf ein erträgliches Maß.
»An Bord nehmen Sie erst mal eine heiße Dusche, und jetzt trinken Sie einen kräftigen Schluck.« Sam gab sich fürsorglich und zauberte einen Flachmann hervor.
Masao verdrehte die Augen. Als Steve Sam die Decken hatte holen lassen, hatte der das Survival-Pack offensichtlich eigenmächtig erweitert.
Sam öffnete den silbernen Flachmann und setzte ihn der Journalistin an die Lippen. Die trank, schluckte, und augenblicklich wechselte ihre Gesichtsfarbe von Grün auf Purpur. Masao konnte sich nicht vorstellen, dass sie Ähnliches vorher schon einmal genossen hatte. Er selbst war über einen einzigen Schluck dieses Gebräus nie hinausgekommen. Und er war sicher, dass die Journalistin ihren Erfahrungshorizont in dieser Hinsicht auch nicht wesentlich zu erweitern gedachte ...
Sie fing an zu husten, und Sam rieb ihr den Rücken. »Es hilft, glauben Sie mir«, säuselte er.
War ein weibliches Wesen in der Nähe, verfiel Sams Stimme in ungeahnte Modulationen. Fehlte nur noch, dass er sich auf sie legte, um ihr seine Körperwärme zu spenden. Der Zodiac sprangüber einen weiteren Wellenberg, um gleich darauf in die Talfahrt überzugehen. Aus den Augenwinkeln erkannte Masao, dass »National Geographic« schwer mit ihrem Magen verhandelte, ob er seinen Inhalt preisgeben sollte oder nicht. Ein mitleidiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Er erinnerte sich gut seiner ersten Anfälle von Seekrankheit. Doch er wusste auch, dass es vorübergehen würde. Nach ein paar Stunden, Tagen oder Wochen. Je nachdem.
Wenige Sekunden später türmte sich vor ihnen eine Wand aus Stahl auf. Die weiße, grobe Farbe war zum Teil bereits abgeblättert und gab rostige Placken frei. Das also war das Ziel ihrer Reise: die »SeaSpirit«, deren Anblick allerdings eindeutig verriet, dass es sich hier um alles andere als eine Luxusjacht handelte, auf der Spendengelder im großen Stil verprasst wurden. Aber im Moment war Leah das piepegal.
Masao steuerte das Schlauchboot am Rumpf entlang in Richtung Heck. Das Schiff schützte sie vor dem Wind, was die See jedoch nicht davon abhielt, ihr Wellenberg-Wellental-Spiel weiterzutreiben.
Am Heck baumelte die Jakobsleiter von der Reling, und der Blick der Journalistin verriet überdeutlich, was sich in ihrem Kopf abspielte. »Vergessen Sie’s, ich komme diese Leiter nicht hoch«, stammelte sie.
»Wir nehmen die Leiter und ziehen Sie mit dem Boot hinauf«, versuchte Gentleman Sam den Schrecken aus ihren Augen zu vertreiben.
Masao manövrierte das Schlauchboot neben die Leiter, und Sam stieg so mühelos um, als absolvierte er die Übung im heimischen Wohnzimmer und nicht auf hoher See bei Windstärke sechs. Er befestigte eine Leine mit einem Karabinerhaken an der Schlaufe seiner Hose. Oben angekommen, schwang er sich über die Reling.
Das Pfeifen des Windes ließ Leah den Motor der Kranwinde nicht vernehmen, scheinbar lautlos glitten die Karabinerhaken für das Boot von oben herab. Bald hast du’s hinter dir, dachte sie, und dann gibt’s nur noch eins: eine heiße Dusche!
Leah schaute nach oben und erkannte gerade noch, wie auch der Japaner über die Reling kletterte und damit ebenfalls aus ihrem Leben verschwand. Nicht, dass die beiden Männer ihr auf den ersten Blick wirklich sympathisch gewesen wären, doch jetzt, da sie ohne ihre Retter auf den Wellen trieb, fühlte sie sich ziemlich alleine. Und fror. Und war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, als sich wie von Zauberhand die Seile strafften, an denen ihr Schicksal hing. Sekunden später ging ein Ruck durch das Schlauchboot, und Leah entwich ein Aufschrei, den glücklicherweise niemand hörte. Abermals schwebte sie durch die Luft, wenn auch auf angenehmere Art und Weise als ein paar Minuten zuvor. Sie erreichte die Reling und wurde weiter nach oben gezogen. Unter den Augen der beiden Männer aus dem Boot fühlte sich Leah wie ein Karnickel, das soeben aus dem Hut gezaubert wurde.
Der Kran setzte den Zodiac auf dem Schiffsdeck ab. Wieder ein Ruck. Und endlich, endlich so etwas wie fester Boden unter den Füßen. Die »SeaSpirit« hatte die angenehme Größe einer Festung, die Sicherheit gegen die Brecher da draußen versprach. Obwohl das Schaukeln nicht aufhörte, schien ihr der Wellengang dank der Masse an Stahl nicht auf die gleiche Art wahrnehmbar. Das
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