Lied der Wale
Lebensgeister zurückkehren. Ms Cullin ... McGregor hatte sie also nicht erkannt. Gut für ihr Vorhaben, weniger gut für ihr Ego. Im Gegensatz zu Susan war Leah der Meinung, dass sie sich kaum verändert hatte. O. k., ihr Haar war damals ein wenig blondiert, Timothy stand drauf, und sie blöde Kuh tat ihm den Gefallen. Immerhin hatten McGregor und sie sich einen ganzen Abend lang in die Augen geschaut, sogar geküsst, verdammt noch mal, so was vergisst man nicht einfach. Leah war ziemlich pikiert. Eine durchaus unpassende Gemütsregung, die sie selbst überraschte – war sie nicht hier, um dem Mann den Garaus zu machen? Richtig. Denk an deinen Vater. Denk an ..., doch das Einzige, woran sie denken konnte, war, wie McGregor ihre Hand berührt hatte. Ihn aus der Ferne zu verdammen war um vieles einfacher gewesen. Denk an deinen Auftrag. Und denk vor allem daran, wie er dich damals abblitzen ließ.
D avid stand immer noch an der Reling des Oberdecks. Govind war schon wieder im Computerraum verschwunden, nachdem Steve die Reporterin ins Innere des Schiffes begleitet hatte. Zuseinen Füßen beseitigte Masao mit einem Schrubber die Spuren von Ms Cullins Einstand auf der »SeaSpirit«.
Für einen kurzen Moment hatte David gezögert – tatsächlich war es ihm so vorgekommen, als kenne er die Frau, als sie mit ihren Turnschuhen durchnässt und sichtlich am Ende ihrer Kraft über das Deck der »SeaSpirit« gestrauchelt war. Wahrscheinlich sah sie nur jemandem ähnlich, die wiederum einer Person ähnlich sah, an die er lieber nicht erinnert werden wollte. Trotz ihres geringfügig derangierten Äußeren wirkte sie durchaus attraktiv: die rotbraunen Haare in Kombination mit den dunklen Augen, der geschwungene Mund, die hohe Wangenpartie. Schön und sexy! Kurz: Der Ärger war nur eine Frage der Zeit. Immer wieder erstaunte es ihn, zu beobachten, wie zivilisierte Männer in stammesgeschichtlich überwunden geglaubtes Konkurrenzverhalten verfielen, wenn sich plötzlich ein vereinzeltes Mitglied des weiblichen Geschlechts unter sie mischte. Eben noch die Ruhe selbst, voller Vernunft und Besonnenheit, konnten sie sich auf der Stelle in eine Horde lüsterner, schweißtriefender Bullen verwandeln, die alle nur ein Ziel kannten: das Weibchen zu begatten. Offenbar war das Programm, die Welt vor dem Aussterben der Menschheit zu bewahren, tief in den männlichen Genen verankert, auch wenn dies angesichts der globalen Bevölkerungsexplosion kaum zu befürchten stand.
Schon Ms Cullins simple Anwesenheit an Bord störte ihn. David wusste nicht erst seit seinem Börsendebakel, wie die Presse funktionierte. Wie sie sich auf alles stürzte, was Schlagzeilen versprach, wie sie jemanden in die höchsten Höhen hob, um ihn anschließend bei der Landung in Stücke zu reißen. Und der gleiche Grund, der zuvor den Anlass für Jubel darstellte, wurde hinterher benutzt, um eine Sache in den Dreck zu ziehen. Wer die Guten und wer die Bösen waren, hing oft nur von Tageslaunen ab.
Andererseits war Steve nicht der Einzige, der erkannt hatte,dass sie auf Hilfe von außen angewiesen waren. Vielleicht war es nicht die schlechteste Idee, eine Reporterin vom ›National Geographic‹ an Bord kommen zu lassen. Er selbst würde gute Miene zum bösen Spiel machen und der Frau einfach aus dem Weg gehen. Sollte sie ihren Artikel kriegen, sollte sie ihre Fotos schießen, sollte sie ihre Fragen stellen. Solange man ihn in Ruhe ließ.
Er stieß sich von der Reling ab und schlenderte in den Computerraum, wo er auf dem Monitor die Route des neulich markierten Wales verfolgte, bis Steve den Kopf hereinsteckte. »Die Reporterin kommt gleich – trifft sich mit uns in der Messe.«
»Wie schön.«
»Willst du sie nicht begrüßen?«
»Nö.«
»David, sie ist vom ›National Geographic‹, ihr die kalte Schulter zu ...«
»Du wolltest sie partout an Bord haben, also kümmere dich um sie«, unterbrach David.
»Aber ...«
»Halt sie mir einfach vom Leib, o. k.?«
Steve schaute ihn verständnislos an, winkte ab und ging. Sturer Bock.
A ls ihre nasse Kleidung zum Trocknen über der Heizung hing, konnte sie es kaum abwarten, die Treppe nach oben zu steigen. Direkt vor sich sah sie eine Tür, die sie öffnete. Allerdings handelte es sich eindeutig nicht um den Aufenthaltsraum, eher um die Luxusausgabe einer Kabine. Bilder an der Wand von Walen und Segelbooten, Regale voller Bücher von Alan Watts, Melville, McCullers, Tennessee Williams, W. B. Yeats, antike
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