Lied der Wale
über das Boot steuern könnten?«
Wie denn? Ein echter Witzbold. Saß mit seinem Hintern im Trockenen.
Leah hatte keine Vorstellung davon, wie sie jemals in diese Nussschale gelangen sollte. Das Seil pendelte weit ausholend hin und her, tat alles, um nur nicht über dem Boot stehen zu bleiben. Wenn hier etwas schiefging, dann landete sie mit zweihundertprozentiger Sicherheit im Wasser. Genauer gesagt, in einem flüssigen Kühlschrank. Ein gigantischer Wellenkamm klatschte gegen ihre Füße und durchnässte ihre Hose bis hinauf zu den Knien.
Fantastisch. Bei dem Wind und den Wassertemperaturen würdesie in wenigen Sekunden über zwei Eisbeine verfügen. Und wieder pendelte sie über die Köpfe der Männer hinweg.
»Wieso haben Sie keinen Neoprenanzug an?«
Platz zwei auf ihrer Hassliste, fluchte Leah innerlich.
»Könnten Sie mich freundlicherweise jetzt in Empfang nehmen?«, schrie sie.
Die Pendelbewegung wurde abrupt durch zwei starke Pranken an ihrem Hintern gestoppt. Normalerweise – auf dem Trockenen mit solidem Kontinent unter den Füßen – hätte ihr rechtes Knie sich reflexartig in seine Fortpflanzungsorgane gebohrt. Aber im Hier und Jetzt hatte der Pograpscher Leahs Blankovollmacht; sie wünschte sich sogar, er würde noch entschiedener Hand anlegen. Bedien dich, nur hol mich hier runter!
Sie befand sich erstaunlicherweise direkt über dem Schlauchboot. Ihre Füße berührten mit den Spitzen den Holzboden. Ihr Retter ließ seine Hände ein wenig höher wandern und umfasste nun ihre Hüfte. So dirigierte er sie in die Mitte des Bootes. Gut so, nur keine Hemmungen. Sekunden später trugen ihre Füße wieder das ganze Körpergewicht, und Leah sah, wie das Seil vor ihr an Spannung verlor.
Sie griff erleichtert an den Karabinerhaken, als sie ihr Retter warnte: »Erst setzen!«
Zu spät. Im selben Augenblick, als sie die Sperre des Karabiners niederdrückte, hob sich der Boden des Schlauchboots und rollte unter ihren Füßen in die Höhe.
»Nein!«, schrie sie auf und riss die Arme hoch, um die Balance zu halten.
»Nein!«, echote der Mann im Boot.
Das war das Letzte, was sie vernahm, bevor sie rücklings ins Meer klatschte. Und versank.
Ihre Kleidung bot ihr für den Bruchteil einer Sekunde Schutz, dann traf die Kälte sie wie ein Eishammer. Sie ruderte hektischmit den Armen, spürte, wie der Stoff immer schwerer wurde und sie hinabzuziehen drohte. Sie ruderte kräftiger und stieß mit dem Kopf aus dem arktischen Nass hervor. Das Boot schien unendlich weit weg, sicher vier oder fünf Meter. Dann verschwand es hinter einem Wellenberg. Eine Wahnsinnsidee, diese ganze Aktion, Leah Cullin, nein wirklich.
M asao hatte es kommen sehen, doch er war nicht in der Lage gewesen, es aufzuhalten. Die Welle traf das Boot von hinten, und er war der Einzige, der den Blick in diese Richtung gewandt hatte. Sam, dessen Gleichgewichtssinn er seit jeher bewundert hatte, schwankte kurz, blieb aber stehen.
»Shit! Hat ihr keiner gesagt, dass sie bei so einem Manöver einen Neoprenanzug braucht?«, fluchte Sam, und Masao hätte ihm wortreich zugestimmt, wenn er nicht alle Konzentration benötigt hätte, das Schlauchboot nicht zu weit von »Ms National Geographic« wegtreiben zu lassen. Windstärke sechs hatte der Wetterdienst gemeldet. Im Schnitt vielleicht, hier gebärdete der Wind sich deutlich rauer. Wenn die Dame sich nicht eine saftige Erkältung mit Option auf eine Lungenentzündung zuziehen sollte, dann musste er den Zodiac schnell zu ihr bewegen. Mit geschickter Kombination von Gas und Lenkeinschlag manövrierte er ihn so, dass Sam Leah an Bord ziehen konnte. »Gleich haben wir’s ... geben Sie mir Ihre Hand ... Ihre Hand!«, forderte Sam sie auf.
Die hysterische Person reckte ihre Hand aus dem Wasser.
»Und nun die andere!«
Stattdessen spuckte sie ihm eine Fontäne Salzwasser entgegen. Ganz Gentleman, ignorierte er das und griff nach ihrem anderen Arm.
»Wo ist meine Tasche? Haben Sie wenigstens meine Tasche,Gott ist mir kalt, ohne meine Tasche bin ich aufgesch...« Eine Welle mitten ins Gesicht stoppte ihre Suada.
Masao half Sam, Madame vollends an Bord zu ziehen. Mit einem letzten Schwung glitt sie über die Luftkammer. Sie rappelte sich auf, während Sam die Decken öffnete und sie der Diva umlegte.
»D-D-Danke«, brachte sie zähneklappernd hervor.
»Gern geschehen, wir tun, was wir können, um unsere Gäste zufriedenzustellen. Herzlich willkommen!« Sam faltete die nächste Decke auf und
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