Lied der Wale
Leah entdeckte aus den Augenwinkeln McGregor eine Etage über ihr. Der Zeitpunkt für eine Gegenüberstellung schien gekommen, und der Gedanke beschleunigte ihren Puls. Doch McGregor hatte offensichtlich bemerkt, dass er beobachtet wurde, denn Leah stellte irritiert fest, dass er plötzlich verschwunden war. Seltsam, ging er ihr aus dem Weg?
Gemeinsam stiegen Leah und Sam hinab zum Hauptdeck, in dessen Rumpf die typischen Bullaugen über der Wasserlinie eingesetzt waren. Hier befanden sich die Kabinen der Crewmitglieder – insgesamt sieben Männer –, die Dusche, eine Krankenstation und weitere Toiletten. Der Bug wurde als Vorratskammer genutzt, und neben der Treppe befanden sich die Dieseltanks. Am Ende des Ganges führte eine Tür in den Maschinenraum.
Vom Hauptdeck aus ging es in den »Keller«, das sogenannte Zwischendeck. Hier fanden sich weitere Tanks für Öl, Kraftstoff und Wasser sowie ein zweiter Vorratsraum. Ziemlich langweilig,so ein Rundgang, das Einzige, was ihr verstohlenes Gähnen unterbrach, waren Sams Beschreibungen darüber, wie sie die Wale markierten, um ihre Standorte zu verfolgen. »... und so geht’s immer weiter, ein Wal nach dem anderen. Man muss schon ein gewisses Fingerspitzengefühl für die Sache haben.«
»Aber die Walfänger, mit denen geht ihr nicht gerade zimperlich um.«
Sam musste grinsen: »Hat sich also rumgesprochen.«
»Allerdings.«
»Die töten Wale. Illegal. Die wussten, auf was sie sich einließen. Und wir haben sie vorher gewarnt – so ist es nicht.«
»Na ja ... Gute Nacht, Sam. War sehr aufschlussreich.«
Sam hatte sie nach dem Rundgang noch zu ihrer Kabine begleitet.
»Jederzeit. Ich stehe rund um die Uhr zu deiner Verfügung«, versprach er.
Leah lächelte und verschwand in ihrem neuen Domizil. Sie war hundemüde und sah auf die Uhr. Zehn. Das hieß, dass es zu Hause zwei Uhr morgens war.
Sie entledigte sich ihrer Kleidung und ließ sich in die Koje fallen. Nach wie vor spürte sie das Rollen der Wellen. Ihr war immer noch mulmig zumute, doch der kleine Rundgang hatte zumindest bewirkt, dass ihr das Stampfen des Schiffes ein wenig vertrauter vorkam. Sie kuschelte sich unter die Decke und rekapitulierte die Führung. Sam hatte ihr alles gezeigt, jeden Winkel auf dem Kahn. Und ihr erster Eindruck hatte sich bestätigt: Mit den Spendengeldern wurden hier keine Wände tapeziert. Selbst die Kapitänsräume wirkten nicht gerade verschwenderisch. Doch all das konnte täuschen.
N achdem Leah zu seinem Bedauern die Tür von innen verschlossen hatte, verschwand Sam, um seinerseits in die Koje zu kriechen. Nicht enttäuscht sein, alter Junge, gut Ding will Weile haben, die Lady hat Stil, die fällt nicht jedem in der erstbesten Sekunde um den Hals, das ist korrekt. Nichtsdestotrotz glaubte Sam eindeutige Signale wahrgenommen zu haben, dass Leah auf ihn abfuhr. Allerdings glaubte er das bei jeder Frau.
Als er zum Knauf seiner Kabinentür griff, beschlich ihn das Gefühl, dass hier irgendwas nicht stimmte. Als er sie geöffnet hatte, wusste er, was es war. »No way, das kommt nicht in Frage!«
Steve stand vor dem Kleiderschrank und war dabei, seine Sachen in die freie Hälfte einzuräumen. Sam wollte protestieren, doch Steve kam ihm zuvor und deutete auf die Kojen. »Soll ich oben oder unten schlafen, was ist dir lieber?«
Sam hatte vor Leah noch groß getönt, jeder habe hier seine eigene Kabine, doch ihm war schon klar gewesen, dass Steve, der ihr ja die seine zur Verfügung gestellt hatte, nicht im Schlauchboot übernachten würde. Aber warum ausgerechnet bei ihm?
»Am liebsten irgendwo anders – warum nicht bei Joe? Seine Kajüte ist größer als meine. Oder bei Govind?«
»Mit Joe versteh ich mich nicht gerade besonders. Außerdem hat er entweder eine Schlaftablette genommen, oder er will die Tür nicht öffnen.«
»Und Govind? Der ist sicher noch wach.«
Aber Steve hatte seine Entscheidung getroffen. »Also: oben oder unten?«
Widerspruch war anscheinend zwecklos. »Ist mir egal, such dir was aus.«
»O. k., oben ...«
Dann eben oben. Musste er sein Bettzeug zumindest nicht herumwuchten.
Steve zog sich bis auf die Unterhose aus und schwang seinen Körper auf die obere Pritsche. »Mach das Licht aus, wir haben die Vier-bis-acht.«
Sam seufzte, beinahe hätte er es verpennt. Er war wieder mit Frühschicht dran. Jede Nacht teilte sich in drei Nachtwachen: je zwei Crewmitglieder von acht bis Mitternacht, von Mitternacht bis vier und dann von vier bis
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