Lied der Wale
Lösung. Sie bückte sich unter den Tisch zum Rechner und betätigte beherzt den Netzschalter. Wenigstens der hielt zu ihr. Imgleichen Moment, als die Tür aufschwang, wurde der Bildschirm dunkel. Eins zu null gegen die Sanduhr.
»Na, alles geklappt?«
»Ja ... nein. Bin gerade mit dem Knie an den Einschaltknopf gekommen. Ich hoffe sehr, ich hab keine Daten vernichtet?!«
Steve winkte ab. »Kein Problem, ich fahr ihn einfach wieder hoch.«
Leah hatte das Gefühl zu ersticken. Sie war für solche Geheimdienstspielchen einfach nicht geschaffen. Äußerlich wirkte sie zwar immer noch gelassen, mal abgesehen von ihren Händen, die sie fest auf die Tischplatte drücken musste, damit Steve nicht mitbekam, wie sehr sie zitterten. Doch in ihrem Kopf hämmerte das Blut gegen die Schläfen, und die Spannung steckte in ihrer Kehle wie die klebrige Polenta mit Schafskäse, die ihre Mutter bei jedem, aber auch jedem Besuch extra für sie zubereitete: »Hier, dein Lieblingsessen.« Keine Ahnung, woher ihre Mutter das hatte, aber sie schien in ihrem Irrtum so glücklich, dass Leah es nicht übers Herz brachte, ihr je die Wahrheit zu sagen.
»Ich geh dann wieder«, erklärte sie halbherzig.
Steve brummte nur noch ein »Mhmm«, offensichtlich war er in Gedanken schon woanders. Glück gehabt, Leah Cullin, trojanische Stute. Das nächste Mal bitte mit mehr Köpfchen.
Sie ging zu ihrem Lieblingsplatz auf dem Vorderdeck zurück, parkte ihren Blick auf den Wellen und wartete, dass sich ihr Pulsschlag wieder beruhigte.
Z weimal schlafen, machte etwa sechzehn Stunden; morgen sechs Stunden Schule, das waren schon zweiundzwanzig, die Geoffrey abhandenkamen. Da der Quantensprung in subtiler Deeskalation sich als Salto rückwärts entpuppt hatte, blieben, bis der Bengel in Grandmas Obhut wechselte, gerade mal sechshundertNetto-Minuten, um ihn doch noch für sein Team zu gewinnen. Die Uhr tickte, und er hatte keine andere Wahl. Er musste mit offenen Karten spielen.
Michael wurde sofort wach, als Geoffrey sich auf seine Bettkante setzte.
»Willst du nicht deinen Pyjama anziehen?«
» Mein Zimmer, geh raus!«
»Michael, hör mir kurz zu«, bat ihn Geoffrey im mildesten Tonfall, den er aufbringen konnte, »ich muss dir was Wichtiges sagen.«
»Ich weiß schon, was du sagen willst, ich werde es nicht tun.«
»Nein, ich hab längst aufgeräumt, es geht ... es geht um deine Mutter und mich.«
Michael kehrte ihm den Rücken zu und zog sich die Decke über den Kopf.
»Ich liebe sie ... ich will sie glücklich machen, und sie hat weiß Gott ein bisschen Glück verdient. Tut mir leid, dass wir beide so auf Kriegsfuß miteinander stehen ... Ich hab keine Erfahrung mit Kindern, sicher stelle ich mich meistens saudoof an, sag du mir, was ich machen soll.«
»Aus meinem Zimmer rausgehen!«, kam es dumpf von unterhalb der Decke.
»Pass auf, die Sache ist so: Ich will deine Mutter heiraten, aber ich habe nicht die geringste Chance, wenn du mich nicht akzeptierst. Für Leah bist du das Wichtigste im Leben. Wenn du nur die Nase rümpfst, bin ich für sie Geschichte, und das weißt du. Ich hab schon begriffen, dass ich nicht den Platz deines Vaters einnehmen kann, aber sieh mich wenigstens nicht als Feind. Überleg mal, was hab ich schon verbrochen? Nimmst du’s mir übel, wenn ich verrückt nach deiner Mutter bin? Schuldig. Ich bin verrückt nach ihr, total. Und ich wusste von Anfang an, dass sie ein Kind hat, so wie ich weiß, dass sie nie mit mir eins habenwill, einzig und allein, damit du nie auf den Gedanken kommst, dass ein gemeinsames Kind möglicherweise auch nur ein Quäntchen mehr Aufmerksamkeit oder Liebe bekommt als du. Das hat sie mir klipp und klar gesagt, es stand nicht mal zur Debatte. Und ich hab’s sofort akzeptiert. Ich werde also nie ein eigenes Kind haben, und ich bitte dich, ich bitte dich sehr, auch wenn du mich nicht als deinen Vater willst, erlaub mir wenigstens, dass ich dich wie meinen eigenen Sohn aufziehe, mehr will ich gar nicht. Hörst du, Michael?«
Geoffrey wusste nicht, ob der Kleine ihm noch zuhörte oder längst wieder eingeschlafen war, aber er war froh, es ausgesprochen zu haben. Froh für sich selbst. Froh, ohne die raffinierte Kultiviertheit seines Sarkasmus, ohne die üblichen Pointen, mit denen er alles Echte entschärfte, geradeheraus seine Gefühle offenbart zu haben. Sollte er sich gerade eben einem Neunjährigen mit seiner Offenheit endgültig ausgeliefert haben, auch gut. Denn was er gesagt hatte,
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