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Lied der Wale

Lied der Wale

Titel: Lied der Wale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Thomas
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Original-LP leider nie zu hören gewesen. Erst auf einer späteren CD hätten sie auch diese Version veröffentlicht, die ihr persönlich immer besser gefallen hatte. David war beeindruckt. Ein einsamer, klagender Trompetenton erklang, und Leah war sich sicher, dass nicht nur ihr eine Gänsehaut über den Rücken kroch. David, der für einen Moment alle Vorbehalte gegenüber der schreibenden Zunft vergessen zu haben schien, wollte wissen, wie sie an Miles Davis geraten war.
    »Ich liebe Davis. Er hat so eine Art, Gefühle mit Tönen auszudrücken. Wobei er die traurigen deutlich besser beherrscht.«
    David blickte Leah an und schwieg. Woher, verflucht noch mal, kannte er sie? Es wollte ihm einfach nicht einfallen. Dabei kam sie ihm so vertraut vor, wie ein Déjà-vu, das man nicht einordnen konnte, flüchtig, sprunghaft, ein zarter Hauch Erinnerung an etwas, das niemals stattgefunden hatte – denn auch wenn er von präseniler Vergesslichkeit befallen sein sollte, Ms Cullin war eine junge Frau. Sie wiederum hätte sich an eine frühere Begegnung sicherlich erinnert und sie erwähnt, das wäre ja in ihrem Interesse gewesen.
    »›Solea‹, auf der gleichen CD, hat mir auch gut gefallen«, unterbrach Leah seine Gedanken. Das reichte jetzt aber auch, sie wollte nicht als Besserwisserin erscheinen. Leah bildete sich ein, dass sie bei ihm ein bisschen Land hatte gewinnen können. Zum ersten Mal hatte sich McGregor dazu herabgelassen, nicht gleichdas Weite zu suchen. Sollte sie jetzt nicht die Chance nutzen, das Gespräch fortzuführen? Allerdings war ihr nicht entgangen, wie er ihren Körper gemustert hatte. Und wenn ein Mann in irgendeiner Weise Interesse an einer Frau zeigte, dann sollte sie es ihm nicht zu leicht machen. Das galt nicht nur für Liebesbeziehungen. Das galt für jeglichen Kontakt mit dem anderen Geschlecht. Also entschied sie sich zu schweigen.
    »Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Joe sie.
    »Gerne.«
    Joe füllte ihr eine Tasse aus der Thermoskanne. »Ist schwarz – wenn du Zucker oder Milch willst, kann ich was aus der Kombüse ...«
    »Schon o. k., danke.« Leah nahm einen tiefen Schluck. Wer auch immer hier an Bord für den Kaffee verantwortlich war, das Zeug war köstlich.
    Sie stand jetzt direkt neben dem massiven Tisch, auf dem eine Seekarte befestigt war. Diverse Lineale und andere seltsam anmutende Geräte lagen darauf herum.
    »Wo sind wir eigentlich?«, wollte Leah wissen.
    So würde sie wenigstens erfahren, wie viele Stunden Zeitunterschied sie von Washington trennten. Joe deutete auf eines der vielen Displays, die auf der Brücke angebracht waren. Die Längen- und Breitenangaben zeigten ihr, dass sie sich weiterhin in Richtung Süden bewegten und ein wenig weiter nach Westen gedriftet waren.
    »Muss ich die Uhr umstellen?«
    »Kaum«, klärte Joe sie auf. Sie hielten sich hier an die Anchorage-Zeit. Es vereinfachte die Sache, sich an der Ortszeit einer großen Stadt zu orientieren. Vor ein paar Wochen noch hatten sie sich genau auf der Datumsgrenze entlangbewegt. Da ging die Uhr auf dem Display zwar ihren gewohnten Gang, aber das Datum flackerte wie eine Discobeleuchtung.
    »Lass lieber deine Uhr so, wie sie ist; wenn wir den nächsten Hafen anlaufen, werden wir die Zeit wieder darauf einstellen.«
    Leah wurde hellhörig, doch sie war vorsichtig genug, nicht direkt mit der Tür ins Haus zu fallen. Also schluckte sie die Frage nach dem Zielhafen fürs Erste hinunter.
    »Wir haben die Route für die nächsten Tage festgelegt«, fuhr Joe fort, dann glitt sein Finger auf dem Bildschirm weiter. »Wenn alles glattgeht, laufen wir in zehn Tagen in Dutch Harbour ein. Kleiner Hafen, aber sie haben alles, was man so benötigt. Der Dieselmotor braucht ’ne Überholung.«
    Sie traute ihren Ohren nicht: Gerade eben hatte man ihr auf dem silbernen Tablett eine der Informationen beschert, deretwegen sie sich an Bord befand. Leah blickte sich verstohlen um und registrierte eine Bewegung McGregors. Hatte er gerade zu ihr geschaut, oder kam es ihr nur so vor? Warum sah er nur so verdammt gut aus, wie er da am Ruder stand und auf das Meer hinausblickte? Und warum war es ihr so wichtig, dass er Interesse an ihr zeigte? Der Mann, den sie vernichten wollte, war ein wandelnder Widerspruch: auf der einen Seite hart wie Granit, schroff, abweisend, auf der anderen Seite dieses Faible für Miles Davis’ wehmütige Töne, für Bücher von Alan Watts und Carson McCullers, für Gedichte von Yeats ...
    »Muss jetzt

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