Lied der Wale
war die reine Wahrheit. Komisch. Wie leicht es ihm gefallen war, sie auszusprechen. Und welch ungeheure Erleichterung es ausnahmsweise war, authentisch zu sein.
L eah schreckte hoch, als ihr jemand auf die Schulter tippte, und sah Joe vor sich stehen.
»Wollte dich nicht erschrecken, aber es wird frisch. Und eine Erkältung kannst du sicher nicht gebrauchen.«
Ein Blick auf die Uhr sagte Leah, dass sie fast zwei Stunden geschlafen hatte. Es war kurz vor zehn Uhr Kodiak-Zeit. Sie hatte keine Ahnung, ob sie sich noch in der gleichen Zeitzone befanden.
»Danke.« Eine Gänsehaut kroch über ihre Haut. Sie fror tatsächlich. »Ich werd mir eine Jacke holen.«
»Ich begleite dich.« Joe räusperte sich. Im Umgang mit Menschen weiblichen Geschlechts war der alte Haudegen etwas aus der Übung, aber Leah schaffte es schnell, ihm seine Befangenheit zu nehmen. Sie erfuhr, dass er von acht bis zwölf Uhr Nachtwache, Dogwatch, hatte.
»Jede Stunde wird ’ne komplette Runde übers Schiff gedreht und überprüft, ob alles in Ordnung ist. Jetzt bin ich dran.«
Auf Leahs Frage, was denn in einer Stunde schon Schreckliches passieren konnte, gelang es Joe, in wenigen Augenblicken Gruselszenarien zu entwickeln, die jede Versicherung in Angst und Schrecken versetzt hätten. Er beschrieb anschaulich, weshalb Wasser, Feuer und nicht ordnungsgemäß befestigte Dinge die größten Feinde auf einem Schiff sein konnten. Wenn die See rauer würde und zum Beispiel einer der Kräne gegen die Aufbauten krachte, dann sei Masao im Funkraum schnell einen Kopf kürzer. Eine lose Kiste an Bord konnte sich zu einem üblen Geschoss entwickeln. Leah solle sich nur einmal vorstellen, der Kahn finge Feuer und die elektrische Anlage wäre futsch. Ohne Funk wären sie hier draußen völlig aufgeschmissen.
Leah erinnerte sich an Steves Anekdote mit den Kanistern und kam sich mitten im grenzenlosen Ozean einen Moment lang ziemlich einsam vor.
»Wenn du nichts dagegen hast, komm ich ein Stück mit. Ich ziehe mir nur rasch etwas über«, sagte sie.
Zwei Minuten später war sie in ihrer wärmsten Jacke zurück. »Werden die Wachen nicht zu zweit abgehalten?«, fragte sie Joe.
»Einer macht den Rundgang, der andere ist auf der Brücke, die muss immer besetzt sein.«
»Und die Brücke wird besetzt von ...?«
»David.«
Leah nickte und wusste, dass sie McGregor nun nicht mehr entwischen lassen würde. Den ganzen Tag über war es ihm gelungen,sich ihr zu entziehen – denn um nichts anderes handelte es sich bei seinem Verhalten, da war sie sich sicher.
N och bevor sie die Brücke betraten, vernahm Leah den gedämpften Sound einer Trompete, die von einem Orchester begleitet wurde. Sie erkannte das Stück. Keiner konnte einer Trompete so melancholische Töne entlocken wie Miles Davis. Und er hatte mit keinem Orchester so fantastisch gespielt wie mit jenem von Gil Evans.
Joe öffnete die Tür, und Leah trat ein. McGregor blickte stur geradeaus. »Schon zurück? Oder was vergessen?«
»Weder noch«, entgegnete Leah.
David wirbelte herum. »Was machen Sie hier?« Sein Blick sprang zwischen Joe und Leah hin und her und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er über den ungeladenen Gast alles andere als erfreut war.
Ehe Joe eine Erklärung abgeben konnte, meldete sich Leah schon zu Wort: »Joe ist so nett, mir die Dogwatch zu zeigen. Und die beginnt auf der Brücke.«
McGregor wollte etwas erwidern, doch Leah gebot ihm, kurz zu schweigen, indem sie die Hand hob. »Moment«, meinte sie und lauschte konzentriert den Takten der Musik, die aus zwei kleinen Lautsprechern drangen, die unauffällig zwischen den verschiedenen Geräten der Brückenkonsole installiert waren. Einen Augenblick lang schloss Leah die Augen, dann überzog ein Lächeln ihr Gesicht. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist das die andere Einspielung von ›Sketches of Spain‹. Die, die Miles zuerst aufgenommen hatte!«
David zog erstaunt eine Augenbraue hoch. Na, so was, »National Geographic« offenbarte Seiten, die er ihr nicht zugetraut hätte.
Leah missverstand seine Reaktion. »Nein? Hätte schwören können, dass es die ist, die sie sonntags aufgenommen haben.«
Das Lächeln sprang auf Davids Gesicht über. »15. November 1960.«
»Richtig«, entgegnete Leah knapp. Sie versuchte sich ihr Erstaunen über diese offensichtliche Gemeinsamkeit nicht anmerken zu lassen und erläuterte, Miles habe an dem Tag nur drei Viertel des Stücks eingespielt. Die Einspielung sei auf der
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