Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lied der Wale

Lied der Wale

Titel: Lied der Wale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Thomas
Vom Netzwerk:
feines Netz von Linien zu erkennen war. Govind betätigte die Maus abermals, und aus dem Netz wurde eine Fläche. Noch ein Klick, und die Fläche verkleinerte sich, und Leah erkannte, dass es sich um den Ausschnitt der Weltkarte handelte, in dem das Schiff derzeit unterwegs war. Sie erkannte die Aleuten, konnte sogar Anchorage und Kodiak identifizieren.
    »Hier siehst du die Route unserer Wale. Jeroha bewegt sich nicht viel, das Gebiet ist kleiner als 100 000  Quadratkilometer.«
    »Na, wenn das nicht viel ist«, warf Leah ein.
    »Kommt drauf an«, meinte Govind, klickte wieder auf ein paar Felder, und schon sah man eine Weltkugel, die einen Bereich vom Äquator bis ins nordische Packeis zeigte. »Hier hast du das Zehnfache: ein Blauwal.«
    »Wow!« Leah staunte nicht schlecht. Ihr Blick fiel auf den nebenstehenden Monitor mit den Basisdaten. Dort stand, dass es sich um Ketan handelte, einen männlichen Blauwal von dreißig Metern Länge. Das erste Mal vor fünf Jahren markiert, danachnoch zweimal. Einmal vor zwei Jahren und einmal ... »He, das war doch erst vor einer Woche!« Dann stockte sie. Was sie gerade las, machte keinen Sinn. »Wie, gestorben? Am selben Tag?«
    Govind nickte betreten. »Ein Walfänger.«
    »Aber die dürfen doch keine Blauwale schießen?«
    Govind stieß die Luft aus und sah Leah an. »Natürlich nicht. Ein Piratenwalfänger.« Er hielt kurz inne. »Ich zeig ihn dir.«
    Rasch klickte er auf ein Kamerasymbol, und auf dem vierten Monitor flimmerte ein Video, das Govind gedreht hatte. Die Aufnahmen wirkten bedeutend friedlicher als die von der Rammaktion gegen die »Shaqua Soul«. Zuerst konnte man nur die Blaswolke ausmachen, kurz darauf den Koloss selbst. Der Monitor verdunkelte sich, dann konnte sie McGregor im Schlauchboot erkennen. Der Kameramann befand sich im selben Boot. McGregor strahlte übers ganze Gesicht. Plötzlich tauchte der Wal neben dem Boot auf, und McGregor fuhr sanft mit einer Hand über dessen Schwarte. Die Kamera zoomte sich schnell heran, und Leah bekam einen Eindruck von der Größe Ketans. Beim weiteren Näherkommen ließ sich sogar das rechte Auge von Ketan erkennen, der sich im Wasser etwas gedreht hatte, um McGregor anzuschauen. Auf Leah wirkten die beiden wie ein eingespieltes Team, zwei Kumpels, die sich von Zeit zu Zeit auf hoher See begegneten. Dann wurde der Monitor erneut schwarz und sofort wieder hell – ein anderes Schiff war zu sehen. Offenbar handelte es sich jetzt um die Aufzeichnung, die Sam von der Begegnung mit dem Piratenwalfänger gemacht hatte. Govind stoppte das Video.
    Leah protestierte.
    »Ich glaub nicht, dass du das sehen willst.«
    Leah drängte ihn, den Film trotzdem zu zeigen, doch bereitswenige Sekunden später bereute sie es. Sie kannte Bilder von Walfängern, erinnerte sich an Aufzeichnungen, die zeigten, wie eine Harpune auf einen Wal abgefeuert wurde und danach das Blut das Wasser rot färbte. Sie hatte auch die Bilder der Fabrikschiffe gesehen, die mit einer Winde die toten Riesen über eine Rampe an Bord hievten, und sie kannte Fotos von Männern, die den Wal danach zerlegten. Bislang hatten sie in ihr nicht mehr Emotionen ausgelöst als ähnliche Aufnahmen aus Schlachthäusern, in denen Schweine oder Rinder zu Steaks verarbeitet wurden. Sie wusste, dass es das gab, aber es hatte sie nicht wirklich berührt. Anonyme Wesen. Weit weg.
    Dieses hier war etwas anderes. Es war Ketan. Der Wal auf den Fotos in der Kapitänskabine, den McGregor eben noch berührt, dem sie selbst auf dem Bildschirm ins Auge geblickt hatte. Leah spürte, wie sich ihr Hals zusammenschnürte. Der Wal hatte einen Namen gehabt. McGregor hatte ihn ihm gegeben. Wie zwei Freunde waren sie zusammen geschwommen, und dann war Ketan gestorben. Nein. Abgeschlachtet hatten sie ihn . Während sie die Aufzeichnungen seiner letzten Minuten sah, krampfte sich ihr Magen zusammen, vor Abscheu, Grauen, Entsetzen. Immer wieder bäumte sich Ketan auf, während weitere Granaten in ihn einschlugen. Ein grauenhaft langer, schmerzvoller Todeskampf. Leah standen die Tränen in den Augen, als der Film endlich zu Ende war.
    »Ich glaube, ich brauch frische Luft.«
    »Klar. Muss sowieso David Bescheid sagen, dass wir Jeroha erreicht haben. Er will mit ihr schwimmen«, erwiderte Govind und verschwand.
    Leah hätte jetzt die Chance gehabt, weiter herumzuschnüffeln, doch sie dachte nicht einmal daran.
    Sie ging ins Freie und lehnte sich an die Reling. Ketan. Der Name ging ihr nicht aus dem

Weitere Kostenlose Bücher