Lied der Wale
taten, und wie sehr sie sie bewunderte. Doch Leah spürte, dass ihr Platz jetzt an der Seite des kleinen Wals war. Dass sie auch ihm zeigen musste, dass es sich lohnte, weiterzukämpfen.
Also begab sie sich in den Trockenraum. Sie schlüpfte aus dem Anzug und in ihre Kleidung und beschloss, sich noch eine Jacke zu holen.
Als sie an Deck zurückkehrte, kletterte Masao gerade an Bord. Er nickte ihr wortlos zu. Leah sah ihm an, wie sehr er fror. Ihm folgte Sam.
»Kommen die anderen auch?«, erkundigte sie sich.
»Steve kommt noch. Joe und David machen weiter. Wir brauchen ’ne Pause. Mal sehen, was Marek in der Pfanne hat.«
Auch Steve schien es nicht sonderlich warm zu sein, als er wenig später auftauchte.
»Habt ihr noch lebende Tiere gefunden?«
Steve schüttelte den Kopf.
Leah schritt ans Heck, wo Govind mithilfe eines kleinen Hebels, der einem Joystick nicht unähnlich sah, die Winde bediente. Govind zog das Netz immer einen Meter nach oben, verwob dann grob die oberste Leine mit einem Stahlseil, das er von einer kleinen Rolle abspulte, und wartete, bis McGregor ihm von unten ein Zeichen gab.
Mit ungebrochenem Einsatz verrichteten Joe und David ihre Aufgabe.
»Wozu, Govind? Wozu braucht ihr das verdammte Netz?«
Govind räusperte sich, es war ihm unangenehm, dass der Schwarze Peter ausgerechnet ihm zufiel. Doch er hatte Leah bei der Arbeit gesehen und wusste, dass sie ihr diese Antwort schuldig waren.
»Ist unsere Notreserve. Falls nichts mehr greift, um einen Piratenwalfänger am Töten zu hindern. Schiffsschrauben fühlen sich von den Dingern magisch angezogen.«
Leah verstand, was er damit meinte. »Ihr benutzt sie als Waffen.« Sie hätte nicht sagen können, dass sie es verurteilte. Nicht nach dem hier.
Govind erklärte weiter, dass sie dafür nur ein paar Hundert Meter brauchten. Den Rest schnürten sie mit Draht zusammen, dann entfernten sie alle Schwimmer und versenkten das Paket für immer auf dem Meeresgrund, damit das Netz keine Gefahr mehr für die Fische darstellte. In ein paar Jahren würde es mit Algen zugewachsen sein.
Als hätte der Wal sie gerufen, wandte sich Leah ab und ging zum Wasserbecken zurück, wo sie sich am Rand niederließ.
»Hallo, mein Kleiner, bin wieder da.« Sie war sich sicher, dass er sie ansah. Nach einer kurzen Weile ließ der Kran den Patienten ins Wasser zurück.
Leah wusste nicht, wie lange sie am Rand des Beckens gesessen hatte, als David plötzlich neben ihr auftauchte. Er steckte noch im Neoprenanzug, seine Lippen waren blau gefroren.
»Vielleicht wird er etwas zu sich nehmen. Wenn Sie sich aus der Kombüse ein paar Makrelen oder Heringe geben lassen, steig ich ins Becken und geb sie ihm.«
Leah erhob sich, was sich als nicht so einfach erwies, ihre Glieder waren vom langen Sitzen steif. Sie eilte hinein, wo Marek ihr ein paar Fische reichte. David stand bereits im Becken neben dem Wal und schien völlig abwesend zu sein, als Leah wiedererschien. Er ergriff einen der Fische, versuchte die Schnauze des Wales zu öffnen und ihn hineinzuschieben, doch ihr kleiner Freund zeigte keinerlei Interesse. Auch etliche weitere Versuche blieben ergebnislos, bis David es schließlich aufgab. Als er aus dem Pool stieg, stand ihm die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.
Leah merkte, wie sehr ihn die Anstrengungen des Tages ausgelaugt hatten. »Sie sollten sich umziehen, Sie zittern ja«, sagte sie.
David schüttelte den Kopf: »Noch ein paar Stunden, dann haben wir es geschafft.«
Leah begriff. Sie würden die Nacht über weiterarbeiten, so lange, bis sich kein Zentimeter Netz mehr im Wasser befand.
Immer und immer wieder zogen die Bilder des heutigen Tages an ihrem geistigen Auge vorbei, wie eine Diashow, die man nicht stoppen konnte. Niemals hätte sie sich vorstellen können, welche Grausamkeit sich hinter einem scheinbar so harmlosen Ausdruck wie Treibnetz verbarg. Und sie musste an Steves Worte denken: Einen leeren Kanister hatten sie in seinen Maschen nicht gefunden ...
D er Mond schämte sich offenbar seiner Fülle und hielt sich bedeckt wie eine verschleierte Muslimin. Leahs Blick folgte gedankenverloren dem Lauf der nachtgrauen Wolken, als eine Stimme sie aufschreckte.
»Willst du nicht schlafen gehen?« Die Frage kam von Sam, der gerade die Ein-Uhr-Dogwatch machte.
Leah schüttelte langsam den Kopf und gab die gleiche Antwort, die sie zuvor auch schon Steve gegeben hatte. »Ich bleib bei ihm.«
Für einen Moment überlegte Sam, ob er ihr nicht
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