Lied der Wale
kümmert sie nicht. Wer weiß, vielleicht sind wir es ja doch wert ...«
Leah hatte ihm aufmerksam zugehört. David hatte eine Stimme, der man Vertrauen schenken wollte. Ihr fiel auf, dass seine markanten Gesichtszüge sehr viel besser zu dem Leben hier auf See passten als zu seiner Tätigkeit als Aktienjongleur mit Schlips und Kragen. Wie auch immer er früher gewesen sein mochte, dank der Ereignisse des heutigen Tages wusste Leah, dass dieserMann hier nichts mehr mit dem ausgebufften, sarkastischen Geldhai gemein hatte, den sie von früher zu kennen glaubte. Und sie hatte das Gefühl, dass er ihr bei weitem nicht so fremd war, wie sie vermutet hatte.
Leah betrachtete ihren Schützling im Becken. Seine Augen waren geschlossen – zum ersten Mal, seit sie bei ihm Wache hielt. Sie erschrak und spürte, wie sich alles in ihr zusammenkrampfte.
»Ist er tot?«
»Nein, er lebt«, erwiderte David.
Im selben Augenblick hob der Kran das Tier aus dem Wasser, und als wollte der Wal die Aussage bekräftigen, ließ er wieder eine kleine Blaswolke aufsteigen. Die Anspannung wich von Leah. Ein paar Minuten saßen sie schweigend neben dem Becken, dann ergriff David seinen Becher und stand auf.
»Ich muss langsam wieder auf die Brücke, hab noch Dienst heute Nacht. Wenn Sie hierbleiben wollen, bring ich Ihnen einen Schlafsack.«
Leah lächelte ihm zu und nickte.
Als er sich abwandte, rief sie seinen Namen. »David?«
Er drehte sich fragend um.
»Haben Sie das ganze Netz herausgefischt?«
»Ja«, erwiderte er nur und verschwand, um sich trockene Kleidung zu besorgen.
Leah schlief schlecht in dieser Nacht, trotz des kuscheligen Schlafsackes. Die Bilder des Todes, die sie den Tag über in sich aufgenommen hatte, überrollten sie mit aller Macht. Sie träumte von einem Hundefänger, der in Washington bei sengender Sommerhitze die Vierbeiner mit Treibnetzen jagte, und erwachte schweißgebadet. Später schreckte sie aus einem weiteren Traum auf, den sie im Moment des Erwachens schon wieder vergessen hatte. Dennoch pochte ihr Herz gegen die Rippen, und die Frequenzihres Pulses schien es mit dem Tackern eines Geigerzählers aufnehmen zu wollen.
Als sie das dritte Mal wach wurde, stand die Sonne bereits am Himmel. Der Schlafsack war jetzt eindeutig zu warm, besonders in Kombination mit Davids Jacke. Sie schälte sich aus dem Daunenkokon und sah auf die Uhr. Es war bereits halb sieben. Sie wandte sich rasch dem Wal zu. Er hatte die Augen geöffnet und blickte sie an.
»Hoffentlich hast du dich besser erholt als ich«, sagte sie lächelnd.
Immer noch lag er starr in seiner Trage, und Leah befürchtete, dass er sich bislang überhaupt noch nicht bewegt hatte.
Sie rutschte an den Beckenrand. Komm, beweg dich, heb doch mal eine Flosse , versuchte sie ihm zuzureden. Ohne Worte. Nur indem sie ihn streichelte.
David kam auf sie zu.
»Gut geschlafen?«
»Gefroren hab ich jedenfalls nicht.«
»Sie können sich ruhig frisch machen und etwas frühstücken, Leah.«
Leahs Blick wanderte kurz zwischen David und dem Wal hin und her.
»Ich werd so lange bei ihm bleiben«, sagte er.
»Danke, das Angebot nehme ich gerne an.«
Sie raffte ihre Sachen zusammen, schlüpfte in ihre Schuhe und blickte ins Becken. »Hau mir nicht ab!«
Die Dusche weckte ihre Lebensgeister. Das warme Wasser streichelte die Muskeln, der kalte Wasserstrahl danach beschleunigte den Kreislauf.
Ihr Handy machte sich bemerkbar. Auf dem Display blinkte ein Briefsymbol. Schnell öffnete sie Nicks Nachricht: »Neuigkeiten. Ruf an.« Leahs Herz begann zu pochen. Einerseits warsie neugierig, was er wohl herausgefunden haben mochte, auf der anderen Seite spürte sie, dass sie es am liebsten gar nicht mehr wissen wollte. Im Widerstreit ihrer Gefühle hatte sie sich eindeutig zugunsten der Besatzung der »SeaSpirit« entschieden: Der Wert ihrer Arbeit hier ließ sich nicht in Dollars aufwiegen.
Selbst wenn Nick ihr am Telefon sagen würde, die SeaSpirit-Bewegung sei eine riesige Betrugsmaschine, sie könnte es nicht glauben. All die Menschen, die sie an Bord kennengelernt hatte, machten einen durchweg aufrichtigen Eindruck. Der Gedanke, Nick könnte ihre Vorstellung torpedieren, machte ihr außerordentlich zu schaffen. Sie wollte vor allem nicht, dass er ihr neu gezeichnetes Bild von David zerstörte. Ja, sie hegte noch Groll wegen dem, was er ihrem Vater angetan hatte. Zumindest hatte sie sich das eingeredet. Doch seitdem sie gesehen hatte, wie er sich mit dem Treibnetz
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