Lied der Wale
Gesellschaftleisten sollte, aber er spürte, dass Leah nicht in der Stimmung für Smalltalk war, also setzte er seine Runde fort. Wieder war das Geräusch des Krans zu vernehmen, der den kleinen Wal an die Wasseroberfläche zog; wieder eine kleine Fontäne, während er ausatmete. Sonst nichts, keine Bewegung seiner Flossen, kein Flukenschlag, kein Nicken seines Kopfes – wie ein Brett lag er im Wasser. Bereits vor drei Stunden hatte David ihr eine noch wärmere Jacke und eine Isomatte gebracht, damit sie nicht fror.
Obwohl inzwischen die Nacht hereingebrochen war, war die Schiffsbeleuchtung hell genug, um das Becken in dämmriges Licht zu tauchen. Nein, sie wollte jetzt nicht schlafen, konnte sich unmöglich von dem Wal lösen, der so dringend ihres Beistands bedurfte. Zumindest vermutete sie das. Oder war es etwa umgekehrt?
Hätte Leah jemand noch vor wenigen Tagen zu vermitteln versucht, was ihr gerade widerfuhr, sie hätte ihn als Spinner abgetan. Der Wal sprach mit ihr. Sie scheute sich, es jemandem mitzuteilen, aber das reglose Wesen im Becken kommunizierte seit geraumer Zeit mit ihr auf eine Weise, die ihr Verstand nicht für möglich gehalten hätte. Eine Verständigung ohne Worte, die trotzdem Sinn ergab. Es war so, als ob er auf der Klaviatur ihrer Gefühle eine sonderbare Melodie hinterließ, von der jede einzelne Note eine Bedeutung hatte.
So etwas hatte sie bisher nur ein einziges Mal erlebt. Bei Michaels Geburt. Die Schwester hatte ihr das kleine Würmchen in die Arme gelegt, und von dem Moment an, als sie ihn voller Ehrfurcht an ihre Brust drückte, hatte der Begriff »Sohn« eine völlig andere Bedeutung – nicht zu vergleichen mit den langen Monaten, in denen sie ihn in ihrem Leib beherbergt hatte. Bis dahin hatte Leah sich ausgemalt, er wäre ein Teil von ihr – der wichtigste Teil, wichtiger als ihr eigenes Leben. Doch sobald sie seinen Atem auf ihrer Haut wahrnahm, war das, was sie empfand,nicht mehr in Worte zu fassen. Sie wunderte sich, wo dieses Noch-Mehr , dieses Unendlich-Mehr an unbeschreiblicher Liebe, die sie plötzlich empfand, sich zuvor hatte verbergen können, und wieso sie jetzt so genau spüren konnte, was in dem kleinen Wesen vor sich ging. Sie verstand alles – instinktiv. Das, was seine Augen, die noch nicht sehen konnten, dennoch wahrnahmen, die unbegreiflichen Geräusche, die seine ungeübten Ohren erreichten, was ihr Sohn fühlte, was er dachte und was er ihr dabei stumm vermittelte. Und was sie ebenso stumm beantwortete, ohne dass er auch nur eine Silbe nicht verstanden hätte: dass er sich nicht zu fürchten brauchte; dass sie, solange sie lebte, immer für ihn da sein würde. Und vieles, unendlich vieles mehr.
Ähnliches erfuhr sie jetzt. Nicht, dass dies hier ihrem Einssein mit Michael gleichzusetzen war, aber es kam dem ziemlich nahe. Auch der kleine Wal schien in dieser Nacht zu Leahs Seele zu sprechen, schien all ihre längst vergessen geglaubten, unerfüllten Hoffnungen, all die Enttäuschungen und tiefsten Schmerzen, die sie im Laufe ihres Lebens hatte durchmachen müssen, auf magische Weise aus all den heimlichen Verstecken in ihrem Inneren hervorzuziehen. Zumindest geisterten sie in dieser Nacht wie Schimären durch Leahs Kopf, bis Zuversicht sie ablöste. Es war nicht zu leugnen, dieses Gefühl ging von dem Wal aus, und was er ihr zu vermitteln suchte, war am besten mit dem Wort »Vertrauen« zu bezeichnen. Er schien ihr Vertrauen einzuhauchen ... Vertrauen in ihr Schicksal. Vertrauen in ihr Leben. Ja, sogar Vertrauen in den Tod. Vertrauen, dass sie eines Tages alles begreifen würde, was es zu begreifen gab.
»Sie wollen also die ganze Nacht bei ihm bleiben?«
Leah schaute wieder auf, doch diesmal gehörte die Stimme zu David. Er hatte immer noch den Neoprenanzug an, das Wasser tropfte ihm aus den Haaren.
Leah kam es vor, als ob Sam erst vor wenigen Minuten verschwundenwäre, doch die Uhrzeiger belehrten sie eines Besseren: Es war bereits nach zwei.
»Gut, dann werde ich Ihnen eine Stärkung besorgen«, meinte er und verschwand, um wenige Minuten später mit zwei Tassen zurückzukehren. Er ließ sich neben Leah am Beckenrand nieder und reichte ihr eine davon.
»Was ist das?«
»Ein Hausmittel, das bei derartigen Nachtwachen an der frischen Luft Wunder wirkt.« Er lächelte.
Leah umfasste die Tasse und schnupperte. Es roch wie Sams Zaubertrank, und es schmeckte auch so. Der Alkohol brannte in der Speiseröhre, doch kaum war er im Körper, wirkte er so
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