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Lied der Wale

Lied der Wale

Titel: Lied der Wale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Thomas
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lange. Wenn er’s nicht bald schafft, sind seine Chancen nicht besonders groß.« Sie versteht nichts davon, aber intuitiv hat sie mit genau dieser Antwort gerechnet, dachte David.
    »Und wir können nichts tun?«
    »Warten. Und beten, wenn man glaubt, dass es hilft.«
    Glaubte er es? Er war sich selbst nicht im Klaren darüber. Ja, er glaubte an einen Sinn der Schöpfung, er glaubte daran, dass es etwas gab, das dieses Universum erschaffen hatte, und er war überzeugt davon, dass all dies kein Produkt des Zufalls war. Wie oft hatte er schon über diese Fragen sinniert und war zu dem Schluss gekommen, dass alles, aber auch alles einen tieferen Zweck haben musste, auch wenn er sich seinem bescheidenen menschlichen Verstand entzog. Doch andererseits, wenn es diese höhere Kraft im Universum gab, die den Lauf aller Dinge regelte, warum gab es dann so viel Elend auf der Erde? Warum mussten so viele Kreaturen leiden und jämmerlich zugrunde gehen? Warum gab es all diese Kriege und Hungersnöte, warum so viel Ungerechtigkeit und Zerstörung? Das war die zentrale Frage, auf die man wieder und wieder zurückkam. Warum griff Gott, oder wie immer man dieses höhere Prinzip nennen wollte, nicht ein? War dies alles notwendiger Bestandteil unseres Seins? Lag es wirklich allein in unseren Händen zu bestimmen, wie das Schicksal eines jeden, wie das Schicksal dieser Welt seinen Lauf nahm? War das Ganze am Ende als eine Art Schule zu betrachten, mitallen Herausforderungen, die das Leben zu bieten hatte, in der jeder Einzelne irgendwann sein Examen zu absolvieren hatte – mit dem einen kleinen Unterschied, dass die Testanordnung bei jedem anders verlief? Waren Kriege, Leid und Vernichtung, kurz alles Negative, am Ende nichts anderes als uns unverständliche Prüfungen, die es zu bestehen galt?
    Für all jene, die an so etwas wie Wiedergeburt glaubten, mochte dies einen Sinn ergeben, verbarg sich dahinter doch der Gedanke, dass dem Menschen eine Chance gegeben wurde, aus seinen Erfahrungen zu lernen. Doch für die anderen blieb es letztlich eine makabre Erklärung, wenn auch die einzig plausible, die für David mit der Vorstellung der Existenz Gottes Hand in Hand gehen konnte. Anders war es für ihn zumindest nicht zu begreifen.
    »Da!«
    Leahs Aufschrei riss ihn aus dem Grübeln.
    »Haben Sie das gesehen?«
    »Nein, was?«
    »Er hat sich bewegt!«
    David betrachtete den Wal. Er konnte keinerlei Regung wahrnehmen.
    Sie fasste David an der Schulter. »Doch, seine Fluke hat sich bewegt!«
    In diesem Moment sah es auch David. Die Fluke des Wals zuckte.
    »Schon wieder!«, rief Leah aus, und die Freude ließ ihr Gesicht erstrahlen. Sie sprang auf und stieg so, wie sie war, einfach ins Becken.
    David traute seinen Augen nicht. »Leah, das ist saukalt.«
    Doch sie schien ihn nicht zu hören. Schon stand sie neben ihrem Schützling im Wasser und strich über seinen Kopf. »Mein Guter, komm schon, zapple richtig, und wir lassen dich wieder frei.«
    Aber der Wal lag wieder reglos auf seiner Trage, auch wenn Leah nicht aufhörte, ihn zu streicheln und auf ihn einzureden. David beugte sich weiter über den Beckenrand. Vielleicht hatte Leah recht, vielleicht würde der Wal sich tatsächlich wieder erholen.
    Dann hörten sie seine Laute. Der Wal sprach zu ihnen. David kannte Aufnahmen von Schweinswal-Lauten, von ihrem Klicken und auch von der ganzen Bandbreite an Pfeiftönen. Doch solche Laute, wie sie dieser Wal nun von sich gab, hatte er noch nicht vernommen. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der kleine Kerl schrie. Leah sah David vom Becken aus an. Sie sprach nicht mehr zu dem Wal, und in ihrem Gesicht konnte David lesen, dass sie die Töne ebenfalls als Klagerufe interpretiert hatte. Sie wandte sich wieder ihrem Freund zu.
    Der Wal bewegte seine Augen, suchte Leahs Blick, fand ihn und hielt ihn fest. Abermals stieß er sein gequältes Pfeifen aus. Seine Fluke zitterte erneut. Danach seine Flossen. Dann brachen seine Augen.
    »Was ist los mit dir?«, stammelte Leah entsetzt, doch der Wal reagierte nicht mehr.
    »Oh nein, bitte nicht«, flüsterte sie, und David sah mehr die Bewegung ihrer Lippen, als dass er verstand, was sie sagte. Er hatte schon befürchtet, dass der Wal den Tag nicht überleben würde. Zu oft hatte er in den Jahren auf der »SeaSpirit« derartig geschundene Tiere sehen müssen, um in dieser Beziehung noch irgendwelche Illusionen zu hegen.
    Weinend umfasste Leah den leblosen Körper des kleinen Wals und

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