Lied der Wale
weigerte sich, ihn loszulassen. Sie fühlte sich mitschuldig an seinem Tod, und sie fühlte Scham. Scham für alle, die daran beteiligt waren, dass das hier überhaupt geschehen war. Scham darüber, dass sie nie zuvor daran gedacht hatte, dass dies alles immer weiter passieren würde, wenn niemand etwas dagegenunternahm. Wahrscheinlich war es nicht einmal böse Absicht gewesen, als die Fischer das Netz dem Meer überließen. Für den Wal jedoch und all die anderen verendeten Geschöpfe spielte das keine Rolle mehr: Sie waren qualvoll zugrunde gegangen.
»Leah, kommen Sie aus dem Wasser. Sie holen sich eine Lungenentzündung.«
Sie hörte ihn nicht.
»Leah ...«
David zögerte. Einen Moment lang dachte er daran, selbst ins Becken zu steigen und sie zu holen. Doch er wollte sich nicht auf eine Auseinandersetzung mit ihr einlassen. Wenn sie auch nur halb so emotional reagierte, wie er es getan hatte, als er zu Beginn seiner Fahrten Zeuge des Sterbens wurde, dann würde sie womöglich versuchen, ihm die Augen auszukratzen, wenn er sie anfasste. David erhob sich. Er würde wohl Hilfe benötigen.
Wenige Minuten später kam er gemeinsam mit Joe aufs Achterdeck zurück, unter seinem Arm eine Decke.
»Leah, bitte kommen Sie heraus. Wir werden den Wal jetzt dem Meer zurückgeben.«
Leah sah ihn nur an. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Ein letztes Mal strich sie über die Haut des Wals, über seine Schnauze, flüsterte etwas, das David nicht verstehen konnte. Dann bewegte sie sich zum Beckenrand auf die Leiter zu. David war erstaunt, wie gefasst sie plötzlich erschien. Er nickte Joe zu, der den Kran bediente. Der ließ den Wal auf den Grund des Pools sinken, schwenkte den Kranausleger neben das Becken und löste die Halterung der Trage.
David reichte Leah die Hand. Sie griff danach, und er half ihr, aus dem Pool zu steigen. Leah nahm keine Notiz von ihm, ihr Blick war sofort wieder auf den toten Wal gerichtet, als ob ein Magnet ihre Augen ausrichten würde.
David breitete die Decke aus und legte sie um ihre Schultern.Leah war völlig durchnässt, das Wasser tropfte aufs Deck. David wusste, dass sie jetzt schleunigst eine heiße Dusche benötigte, doch er wusste auch, dass nichts und niemand Leah in diesem Moment von Deck bewegen konnte.
Sam, Govind und Masao waren ebenfalls eingetroffen. Joe bediente weiterhin den Kran, während Masao in eines der Boote stieg. Mit schnellen, geübten Handgriffen ließen sie es zu Wasser. Kaum war das Seil des Krans wieder an Bord, hakte Joe die Leinen der Trage ein. Dann hievte er den toten Wal langsam aus dem Becken heraus und schwenkte ihn über die Bordwand.
Keine Sekunde ließ ihn Leah aus den Augen. David hatte einen Arm um sie gelegt, damit sie nicht noch mehr fror. Oder auch, um ihr Trost zu spenden. Leah schien es nicht wahrzunehmen. Unentwegt liefen ihr Tränen über das Gesicht.
Als Joe den Wal absinken ließ, löste sie sich von David und ging zur Reling, um das Tier im Auge zu behalten. David folgte ihr, hielt jedoch Abstand. Er kannte das Gefühl, das sie quälte. Vor allem die erdrückende Traurigkeit und den Wunsch, allein zu sein.
Masao gab Joe per Funk Anweisungen und hielt das Schlauchboot direkt neben dem Wal. Er legte eine Hand auf den Kopf des Tieres und summte ein leises Gebet. Seine Art, Abschied zu nehmen. Dann gab Joe Leine nach, und Masao löste die Seile. Als der Wal vom Tuch rutschte, sah es so aus, als bewegte er seine Flossen, als würde er ihnen ein letztes Mal zuwinken, dann versank er langsam in der Tiefe des Ozeans.
Joe ließ das Seil des Krans nach oben schnurren, und Sekunden später wehte die Trage im Wind neben der Reling, hing schlaff am Haken, nasses, nutzloses Utensil, das Letzte, was an das Leben dieses wunderbaren Wesens erinnerte. Der Anblick des knatternden, leeren Tuchs löste Leah aus ihrer Erstarrung.
David wusste, dass sie ihre Umwelt in diesem Zustand nichtwahrgenommen hatte. Leah schaute nach innen, und er kannte sie nur zu gut, die schwarzen Bilder, die dort unaufhörlich emporstiegen. Doch der Ausbruch, der nun folgte, traf ihn völlig überraschend. Plötzlich hämmerten ihre Fäuste auf ihn ein. Das Trommelfeuer auf seiner Brust tat ihm nicht weh. Vielmehr traf ihn der gebrochene Klang ihrer Stimme, immer wieder nur dieses einzige Wort, als wäre es ein Mantra, dessen ständige Wiederholung den Lauf der Dinge ändern könnte: »Warum?«
Allmählich erlahmte ihre Kraft, und ihre Hände ruhten reglos auf seiner Brust.
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