Lied des Schicksals
zugenommen haben, doch sie schien immer noch das gleiche dunkelrote Samtgewand zu tragen, das sie bei Meggans erstem Besuch im Cottage angehabt hatte. Auch der gefranste Schal aus schwarzer Spitze war wieder um ihre Schultern drapiert, und an ihren Ohren hingen die langen Granatohrringe. An ihrem Dekolleté war die schwarze Chiffonrose befestigt, und in ihrem Haar, in dem keine einzige graue Strähne zu entdecken war, steckte nahe dem linken Ohr die rote Rose. Die unzähligen Ringe, die sie trug, schienen in ihre fleischigen Finger eingewachsen zu sein.
Sie umarmte Meggan theatralisch, dann begann sie zu schimpfen. »So ein Verschwendung. Sie hatten so ein schönes Stimme, doch Sie haben Ihre Talent der Liebe wegen weggeworfen. Sie sind glücklich?«
»Ich bin sehr glücklich, Madame. Das ist meine Tochter Henrietta. Wir nennen Sie Etty.«
»Etty? Was ist das denn für eine Name für eine Artiste?« Sie starrte Etty durchdringend an. »Du möchtest doch eine Artiste werden?«
»J⦠ja, Madame, das möchte ich.«
»Dann lass mich hören, wie du singst. Ich werde dich nur unterrichten, wenn du das Stimme von deine Mutter hast.«
Sie ging ihnen voran in das Wohnzimmer, in dem tatsächlich ein unglaubliches Durcheinander herrschte. »Du stehst da drüben, Henrietta, und ich sitze hier und sehe dich nicht an.« Sie wedelte mit einer beringten Hand in Richtung Erkerfenster. »Ich höre zu. Ich gucke nicht.«
Etty brauchte das ermutigende Lächeln ihrer Mutter. Auch wenn sie viele Geschichten über die Zeit gehört hatte, in der ihre Mutter bei Madame Marietta studiert hatte, bereitete ihr dieses Vorsingen viel mehr Herzklopfen, als sie erwartet hatte.
»Ich warte«, erklärte Madame.
Ein Lächeln zuckte um Meggans Lippen. Sie konnte es nicht fassen, dass Madame genau die gleichen Dinge tat und sagte, die sie vor so vielen Jahren getan und gesagt hatte. Wenn ihre Tochter nicht nervös neben ihr gestanden hätte, hätte sie beinah glauben können, dass jemand die Zeit zurückgedreht hatte.
Meggans offenkundige Belustigung hatte eine beruhigende Wirkung auf Etty. Sie lächelte ihre Mutter an, versuchte, an nichts mehr zu denken, und sang. Als sie die letzte Note gesungen hatte, blickte sie zu ihrer Mutter und erhielt ein anerkennendes Lächeln.
»So«, sagte Madame, stand von ihrem Stuhl auf und ging zu ihnen hinüber. »Das Mädchen singt wie ihre Maman. Nun sagen Sie mir, dass ich mit diese Mädchen mein Zeit nicht verschwenden werde.«
Auch wenn die Frage an ihre Mutter gerichtet zu sein schien, beeilte sich Etty zu antworten. »Oh nein, Madame Marietta, ich werde Ihre Zeit nicht verschwenden. Ich möchte so gerne eine groÃe Sängerin werden.« Ettys Nervosität hatte sich in dem Moment verflüchtigt, als sie anfing zu singen.
»Wie alt bist du?«
»Ich bin fünfzehn, Madame. Im September werde ich sechzehn.«
»Gut, gut. Dann bist du noch zu jung für die Liebe. Nun machen wir eine Plan für deine Gesangsstunden.«
»Begleitet Frederick noch immer Ihre Schülerinnen, Madame?«
»Ach, leider nein, Meggan. Unser lieber Frederick ist vor zwei Jahren von uns gegangen. Seine Herz, es war nicht gut. Jetzt habe ich ein junge Mann, der fast so talentiert ist wie der liebe Frederick. Ah, ein sehr hübsche Junge. Ein wahrer Adonis. Alle Damen verlieben sich in ihn. Wie schade.« Sie zuckte theatralisch mit den Schultern. »Diese junge Mann hat keine Interesse an Frauen. Also verlieb dich nicht in ihn, Henrietta.«
»Nein, Madame. Ich habe nicht vor, mich in irgendwen zu verlieben.«
»Das ist gut. Nun reden wir über deine Stunden.«
Nachdem wegen Ettys Ausbildung alles besprochen war, bestand Madame darauf, dass sie zusammen Kaffee trinken und Kuchen essen sollten. Zunächst plauderten sie über die feine Gesellschaft von Adelaide und die Leute, in deren Salons Meggan gesungen hatte. Dann begann Madame, Meggan nach ihrem Leben auszufragen und Kommentare dazu abzugeben.
Aus gewissen Bemerkungen von Madame und daraus, wie geschickt ihre Mutter mehr als einmal das Thema wechselte, schloss Etty, dass es viele Dinge gab, die sie über ihre Mutter nicht wusste. Da sie in einem harmonischen Zuhause aufgewachsen war und ihre Eltern sich offenbar immer sehr zugetan gewesen waren, hatte sie sich kaum vorstellen können, dass es in deren
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