Lied des Schicksals
Unterricht im Sticken und Nähen war allerdings für Etty eine Plage. Sie besaà keinerlei Geschick im Umgang mit der Nadel, noch hatte sie Lust, ihre dürftigen Fähigkeiten zu verbessern. Miss Hemingway erklärte, sie habe noch nie ein Mädchen erlebt, das so unordentlich nähte. Da die Lehrerin jedoch die Vorstellung nicht ertrug, dass ein Mädchen ihre Akademie verlieÃ, das keine Zierstiche beherrschte, wurde der Handarbeitsunterricht für Etty zur Qual. Sie hatte den Eindruck, dass sie ständig auftrennte und neu nähte, ohne dass ihre Arbeit viel ordentlicher wurde.
Meggan lachte, als Etty sich über die Handarbeitsstunden beklagte. »Du kommst in so vielen Dingen auf mich, meine liebe Tochter. Ich hab auch nie gern genäht. Hast du dich nie gewundert, warum Agnes alle Sachen auf Langsdale stopft?«
»Ich hab immer angenommen, dass Stopfen zu Agnesâ Aufgaben gehört. Andererseits stopft Louisa für ihre ganze Familie die Socken. Wie merkwürdig.« Etty runzelte leicht die Stirn. »Mir ist gerade klar geworden, Mama, dass ich dich noch nie mit einer Nadel in der Hand gesehen habe.«
»Wenn es sein muss, kann ich ganz gut nähen. Das musste ich vor meiner Heirat häufiger tun. Als Kindermädchen bei den Heilbuths gehörte es zu meinen Aufgaben, die Kleidung der Zwillinge in Ordnung zu halten. Doch da Agnes es gerne macht, überlasse ich ihr die ganze Stopferei.«
»Wenn ich doch nur nicht diese langweiligen Stunden ertragen müsste, in denen wir lernen sollen, uns damenhaft zu benehmen. Wir müssen dasitzen und nähen und gleichzeitig höfliche Konversation machen.«
Gegen ihren Willen musste Meggan über Ettys Nörgelei lachen. »Kein Wissen ist jemals vergeudet, Liebes. Wer weiÃ, vielleicht ist es dir ja eines Tages nützlich, wenn du mit Nadel und Faden umgehen kannst.«
Doch Etty konnte sich nicht vorstellen, dass eine solche Situation je eintreten würde, und erklärte das ihrer Mutter nachdrücklich.
Ãber ihre Gesangsstunden bei Madame Marietta hatte Etty keine Klagen. Wie damals ihre Mutter gewöhnte auch sie sich schnell an die extravagante Kleidung und die Eigentümlichkeiten dieser Frau. Gleich zu Anfang ihrer ersten Stunde hatte sie gemerkt, dass Madame eine anspruchsvolle Lehrerin war. Nur was nahezu perfekt war, stellte sie zufrieden, und Lob gab es selten. Irgendetwas an dieser Frau und an ihrer Art zu unterrichten trieb Etty an, immer ihr Bestes zu geben. Und nie zeigte Madame Mitleid, selbst wenn sie es schaffte, ihre Schülerin zum Weinen zu bringen.
»Tränen? Das ist gut. Du hast die Gefühl in deinem Herzen. Nun sing es noch einmal, und diesmal machst du es richtig. Alistair!«
Alistair warf Etty verstohlen einen mitfühlenden Blick zu, dann begann er zu spielen. Etty wischte sich mit einem Finger die Tränen unter den Augen weg und sang.
Selbst der zweite oder gar dritte Versuch fand nicht immer Zustimmung. Manchmal weinte Etty vor Wut. Warum konnte Madame ihr nicht wenigstens ein lobendes Wort sagen? Ab und zu jedoch ertappte sie Madame mit einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht und erkannte, dass sie mit Absicht in Wut versetzt worden war.
Da sie zu viel Ehrfurcht vor Madame hatte, um sie darauf anzusprechen, vertraute sie sich Alistair an. »Warum versucht Madame absichtlich, mich wütend zu machen? Ich glaube, es macht ihr SpaÃ, mich zum Weinen zu bringen.«
»Das macht Madame mit all ihren Schülerinnen. Sie sagt, sie will ihre Zeit nicht mit albernen Dämchen verschwenden.«
»Ich bin kein albernes Dämchen.« Etty war empört. »Madame weià doch, dass es mir mit dem Singen ernst ist.«
»Deshalb stichelt sie so lange, bis du auf irgendeine Art reagierst. AuÃerdem will dich Madame dazu bringen, zu fühlen und diese Gefühle auszudrücken.«
»Sie will, dass ich unglücklich und wütend bin? Wie soll mir das denn beim Singen weiterhelfen?«
»Eine gute Stimme ist nutzlos, wenn man nicht hinreichend Gefühl in die Worte hineinlegen kann, die man singt. Genau das will Madame von dir.«
Alistair war ein gut aussehender junger Mann mit blonden Haaren, tiefblauen Augen und perfekten Gesichtszügen. Frauen drehten sich nach ihm um, wenn er vorbeiging, doch er bemerkte anscheinend die Aufmerksamkeit nicht, die er erregte. Er war, wie er Etty erzählt hatte, zweiundzwanzig Jahre alt. Seine Eltern
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