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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Quäntchen kleiner Freuden zu bekommen. Nimmt man dagegen das Paradies, so scheint Ihnen kein Ort weniger erstrebenswert: Was soll man mit so vielen Jungfrauen anfangen, und warum Jungfrauen, die zwangsläufig unerfahren sind, wenn Gott uns wirklich eine Freude machen will?
    So fruchtbar die monotheistischen Religionen auf anderen Gebieten sind, unvergleichliche Künstler und Schöpfer überbordender und aufregender Welten, so sind sie von herzergreifender Armut, wenn es um den Aufenthaltsort der Toten geht. Als hätte der einzige Gott mit einem verächtlichen Grinsen seine amtlichen Schreiber ein für alle Mal in einen Starrkrampf verfallen lassen: Denkt ein wenig nach, hat Er sie aufgefordert.
    Entweder hat sich der Verstorbene gut aufgeführt, dann sieht er Mich bis in alle Ewigkeit. Was wollt ihr darüber schreiben? Mit welchen Worten könntet ihr diesem unaussprechlichen Schauspiel gerecht werden: Mir?
    Oder der Verstorbene hat Mich aufgrund seiner Sündennicht verdient und dämmert fortan im Nichts. Was wollt ihr Interessantes über das Nichts schreiben?
    Wie beurkundet.
    Da die Monotheisten nur Enttäuschungen brachten, musste ich mich anderen, sogenannten primitiven und sehr zu Unrecht verachteten Religionen zuwenden: dem Animismus, dem Schamanismus, dem Mazdaismus, dem Jainismus … Nicht zu vergessen natürlich die wuchernde Familie der asiatischen Weisheiten.

    Zwei Werke haben mich sehr aufgewühlt:
Le Dit de Tianyi
(deutsch
Regenbogen überm Jangtse
) von François Cheng und
Le Discours de la tortue
(
Abhandlung über die Schildkröte
) von Cyrille Javary. Bei ihrer Lektüre hatte ich den Eindruck, keine Sätze zu entziffern, sondern zwei Reisenden zu folgen. Sie nahmen mich am Arm und führten mich vor eine offenstehende Tür: Los, geh hinein, wovor fürchtest du dich?
    In China leben die Toten weiter. Da staunst du? Was ist schon dabei! Vieles, was man nicht sieht, ist wirklich, sicher und unbestreitbar: die Wurzeln der Bäume zum Beispiel oder der Lebensstrom der Natur im Winter.
    In China verabschieden sich die Toten nicht in unerreichbare Fernen wie die Hölle oder das Paradies der Monotheisten. Sie ziehen nur in ein Land ein, das schwer zugänglich ist, mit dem man allerdings in Kontakt treten kann.
    Dazu bereitet man den Toten Speisen. Sie sind zwar nicht mehr imstande zu kauen oder zu schlucken, aber siekönnen dort, wo sie sind, den Geruch einsaugen. Und uns, den noch Lebenden, antworten sie. Willst du mit einem Verstorbenen sprechen? Brate ihm ein Stück Fleisch. Wenn der Verstorbene zufrieden ist, wird er auf dem Knochen einen Hinweis durch bestimmte Kratzspuren hinterlassen, und wenn ihn das Gericht enttäuscht hat, werden andere Spuren erscheinen.
    Feuer, Rauch, Bratenduft: Es gibt viele Arten der Kommunikation zwischen der einen Welt und der anderen.
    Da die Lektüre dieser Knochen schwierig war, ersannen die Chinesen der Shang-Dynastie (18. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung) eine, wie man so sagt, andere Methode: Man legte einen glimmenden Holzspan auf den Panzer einer Schildkröte. Schildkröten sind, wie jeder weiß, langsame Tiere, aber niemand ist so beharrlich wie sie, wenn es darum geht, die längsten Wege zu Ende zu gehen – das ideale Tier, um ins Jenseits zu gelangen.
    Die Shang-Chinesen bewahrten alle rissigen Schildkrötenpanzer auf, damit sie sich später erinnern konnten, wie sie sie interpretiert hatten: Es war das einzige Mittel, um die Sprache der Toten irgendwann zu verstehen. Bald ertranken sie in Schildkrötenpanzern. So kamen sie auf den Gedanken, in die Panzer selbst Zeichen zu gravieren, damit sie leichter archiviert werden konnten.
    Auf diese Weise, heißt es, sei die Schrift entstanden.
    Wie hätte diese hübsche Geschichte meine Frau dort, wo sie war, ungerührt lassen können?
    Ich sage es noch einmal: Ich habe diese Zeit in bester Erinnerung. Meine tote Frau und ich, wir verstanden uns ausgezeichnet. So groß meine Wut war, als sie entschwundenwar, sosehr ich die Tote damals alles Mögliche geheißen habe, und manches war wirklich nicht nett, sondern ziemlich vulgär, so schön versöhnten wir uns wieder, nachdem ich ihr Verschwinden erst einmal angenommen hatte.
    Unsere Beziehung ging von neuen Grundlagen aus, wir waren offenkundig distanzierter, aber friedlicher. Ich spürte, dass sie mir verbunden war für die Hartnäckigkeit, mit der ich

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