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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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ihren Smart gesetzt. Glücklicherweise parkten die Schüler wild durcheinander: Ihre Wagen versperrten die Ausfahrt. Der zuvorkommende Mönch kurbelte das Fenster herunter, und ich konnte ihn noch ein wenig befragen.
    Â«Ich glaube, meine Frau war alles andere als eine Heilige.»
    Ein neuer Funke blitzte in den Augen meines Lehrmeisters auf.
    Â«Dann wird sie ihre Wanderschaft fortsetzen.»
    Â«Können Sie einen Rat geben, mir sagen, wohin ich gehen soll, um sie wiederzusehen?»
    Â«Sechs Schicksale sind möglich. Die ersten drei sind vorteilhaft. Wenn sie in einer Gottheit reinkarniert werden konnte, als
Deva
, dann wird ihr Leben reine Freude sein.»
    Â«Umso besser für sie!»
    Â«Oder sie ist als
Asura
wiedergeboren worden. Das sind mächtige Erscheinungen, leider liegen sie ständig im Streit mit den
Devas
. Die dritte, etwas weniger vorteilhafte Möglichkeit besteht darin, dass sie wieder zu einem Menschen wurde.»
    Â«Zu welchem Menschen? Woran kann ich sie unter den sechs Milliarden erkennen?»
    Unterdessen hatte ich die Frau vom Fernsehen für mich eingenommen. Sie warf mir Blicke zu, die von Mal zu Mal mehr Anteilnahme und Wohlwollen ausdrückten. Offenbar fühlte sie mit. Vielleicht hatte sie in jüngsterZeit einen nahestehenden Menschen verloren? Die Leute verlieren mehr Menschen, als man meint. Vielleicht stellte ich genau die dummen Fragen, die ihr seit Langem durch ihren hübschen Kopf gingen, die sie sich aber nicht zu stellen getraute? Als Redakteurin für Buddhismus-Sendungen hätte sie möglicherweise ihre Stelle riskiert.
    Der Mönch fuhr fröhlich wie immer mit seiner Lektion fort.
    Â«Die drei weniger vorteilhaften Schicksale sind die Wiedergeburt als Tier, als gieriger, nie zufriedener Geist und die Verdammnis zur Hölle.»
    Die Straße war frei. Als sie losfuhr, zeigte die Journalistin mit trauriger Miene auf ihren kleinen Smart. Unmöglich, einen weiteren Mitfahrer aufzunehmen. Verfluchter Smart! Wäre er ein bisschen größer gewesen, hätte ich vielleicht genug Hinweise aufgelesen, um meine Frau wiederzufinden.
    So endete meine große Nachforschung über das
Bardo
, das Tibetanische Totenbuch, auf einem Parkplatz in Ville-D’Avray.

 
    Â 
    Â«Was macht die Trauerarbeit? Kommst du voran?»
    In dem Land, in dem die beiden Brüder lebten (Frankreich), war man übereingekommen, den Tod zu verbergen. Kaum war der letzte Atemzug getan, wurde der frische Leichnam sogleich Gott weiß wohin verfrachtet. So konnte man leichter sagen, der Verstorbene sei «von uns gegangen», womit man ihm sicherlich eine Chance zur Rückkehr einräumen wollte. Außerdem ist dieser Ausdruck beruhigend: «Von uns gegangen» lässt uns weniger zittern als «gestorben». Demjenigen, der «von uns gegangen» ist, erwies man unter Freunden auf unbestimmte Weise die letzte Ehre. Am Tag danach wurde es dann ernst: Die Trauer begann.
    Die Trauer war ebenso zu einer nationalen Herzensangelegenheit geworden wie der Bau von Museen, der eine Spielart der Trauer ist. Indem wir unsere vergangene Größe feiern, lernen wir, uns in unserem gegenwärtigen Niedergang zu gefallen.
    Â«Was macht die Trauerarbeit? Kommst du voran?»
    In Frankreich kümmerte man sich nicht mehr um Ihr Wohlergehen, niemand fragte Sie mehr, was es Neues bei Ihnen gibt, aber man wollte wissen, wie es Ihnen bei Ihrer Trauer geht. Und wenn Sie erblassten, statt zu antworten, wenn Ihnen Tränen in die Augen schossen, nahm man Sie nicht in den Arm, legte Ihnen nicht die Hand auf die Schulter, sondern man schärfte Ihnen ein, sich schnellstens in Behandlung zu begeben.
    Ein neuer Beruf war entstanden, der von jener nationalenLeidenschaft profitierte: der Trauerbegleiter. Und um sich Gehör zu verschaffen und sein Honorar zu rechtfertigen, bürdete dieser einem auch noch Arbeit auf. Die allseits bekannte Trauerarbeit.
    Der große Bruder hatte sich niemals vor Arbeit gedrückt. Seit er zehn Jahre alt war, hatte seine Mutter ihn regelmäßig angefleht, er möge doch einmal spielen gehen, anstatt immer nur zu lernen. Sie hatte den Kampf verloren, ebenso alle anderen Frauen in ihrer Nachfolge.
    Doch zu dieser Arbeit fühlte er sich nicht in der Lage. Warum sollte ich in mir die Frau töten, die bereits tot war?
    Es kam nicht in Frage, einen dieser Trauerbegleiter zu mästen.
    Ich beschloss, nach meinem Gutdünken

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