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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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– «ich habe gesehen, wie sehr er dir gemundet hat …»
    Vor allen Dingen beteiligte er sich an der Suche seines Bruders, obwohl er sie für aussichtslos und unvernünftig hielt. Er beteiligte sich mit Leib und Seele daran, als wäre sie sein eigenes Anliegen.
    Ihr brüderliches Verhältnis war erschüttert gewesen, weil der Jüngere am Kampf des Älteren gegen die Krankheit keinen Anteil genommen hatte. Tief in sich fühlten sie, dass sie einer gemeinsamen Sache bedurften, um wieder zueinander zu finden. Die Suche nach dem mythischen Ort – wo, wo sind die Toten nach dem Tod, und besonders die Toten, die zweiundvierzig Jahre alt sind, aussehen wie die Sonne und zwei blaue Augen haben? – dientediesem Ziel besser als alles andere: Sie würde ihr Gral sein und der Zement ihrer neuen Freundschaft, die stärker und fester sein sollte als die alte, die Risse bekommen hatte.
    Wo?
    Sie wussten natürlich, dass sie nicht die Ersten waren, die dieser Frage nachgingen und sie immer wieder durchkauten.
    Wo halten sich die Menschen auf, wenn sie einmal gestorben sind?
    Seit Anbeginn der Zeit schlagen sich die Menschen mit dieser Frage herum.
    Doch die beiden Brüder kümmerten sich nicht um die lange Reihe ihrer Vorgänger. Um die Wahrheit zu sagen, sie sahen mitleidig auf sie herab: die armen Alten! Wenn sie keine Antwort gefunden hatten, dann hatten sie eben nicht richtig gesucht.
    Ihr beiderseitiges Vertrauen, das ebenso kindisch wie uneingeschränkt war – «Eines Tages wird es uns, den beiden Brüdern, mit vereinten Kräften gelingen, hinter das Große Geheimnis zu kommen» –, hatte unterschiedliche Gründe.
    Der Jüngere stützte sich, ein wenig einfallslos, ein wenig faul, auf «die Errungenschaften der modernen Wissenschaft»: Befragungen von Leuten, die aus dem Koma wieder erwacht waren; Studien über die Frage, wo der Tod beginnt, über die Weitergabe der Gene … usw.
    Der Ältere ging ganz andere Wege von schwindelerregender Vielfalt. Niemand, der seinen Charakter kannte, wunderte sich darüber. Er hatte nicht nur seine Liebe aufgeteilt, er war auch in vielen verschiedenen Berufen zugange. Eine Laufbahn, allein schon die Vorstellung,eine geradlinige Laufbahn einzuschlagen, wäre ihm als die schlimmste persönliche Verkümmerung erschienen, und da seine einzige Berufung offensichtlich die Neugier war, hatte er sich bemüht, seine Arbeitswelten bunt zu gestalten. In der langen Liste seiner mehr oder weniger unglaublichen Tätigkeiten konnte er unter anderem auf drei Jahre verweisen, in denen er für den französischen Staatspräsidenten Reden geschrieben hatte. Dabei hatte er Gelegenheit, bei diesem Präsidenten, der im Übrigen ein bemerkenswerter Mann war, die Sünde des Hochmuts in allen ihren Äußerungsformen aus nächster Nähe zu studieren. Denn der Hochmut ist ein ganzes Völkchen. Da ist zum Beispiel der
historische
Hochmut: der exaltierte Wille, sich in eine Ahnenreihe zu stellen (oh, das Lächeln dieses Präsidenten, wenn er die Könige Frankreichs aufzählte und dann kindlich schloss: «Im Grunde bin ich ihr Nachfolger, nicht wahr?»). Der Hochmut des
Herrschens
: die immer wieder neue Freude an der allgemeinen Unterwürfigkeit seiner Umgebung (oh, dieses andere Lächeln, dieses In-sich-hinein-Grinsen über eine hochtrabende Schmeichelei oder über einen sich nähernden Bittsteller). Und der Hochmut der
Tat
: der Stolz, wenn er, und sei es auch nur um einige Millimeter, eines der Räder der Geschichte des Landes oder Europas verstellen konnte (oh, dieses dritte, entrückte und friedliche Lächeln, dieses innere Strahlen nach der Rückkehr von einer Konferenz oder beim Aussteigen aus dem gepanzerten Wagen).
    Diese Arten des Hochmuts sind sichtbar und tragen zum Amüsement derjenigen bei, die sie bemerken.
    Aber es gibt einen Hochmut, der sehr viel verborgener, sehr viel lächerlicher als jeder andere Hochmut ist, weil er viel unverhältnismäßiger und aus diesem Grundunendlich viel rührender ist. Ich spreche nicht von seiner Gewissheit, die Krankheit zu besiegen. Als man ihm, kaum dass er gewählt war, die schlechte Nachricht mitteilte, war der französische Staatspräsident nicht lange niedergeschmettert. Kaum hatte der Arzt seinen (wohl aus Verlegenheit ein wenig zu lang geratenen) Satz beendet, richtete sich der Staatschef in seiner

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