Lied für eine geliebte Frau
und auf meine Art voranzukommen, zwischen Erinnerungen und Verlustschmerzen wollte ich ein Flaneur, ein Faulpelz sein, ein Trauerfaulpelz.
Die einzige Tür, an der ich anklopfte, war die eines Augenarztes.
«Herr Doktor, ich sehe nur sie.»
«Was wollen Sie damit sagen?»
«Sie ist überall. Auf der StraÃe geht sie vor mir. Bei meinen Arbeitsbesprechungen setzt sie sich dazu. Beim Lesen eines Buches lächelt sie mich von der aufgeschlagenen Seite an â¦Â»
Ich musste diesem einigermaÃen verdutzten Arzt erklären, dass vier Jahre zuvor eine Frau in mein Leben getreten war, dass diese Frau gestrahlt hatte wie eine Sonne und dass sie nun tot war, mich aber keineswegs verlassen hatte â¦
«Retinale Persistenz», diagnostizierte der Arzt. «DaSie offenbar Interesse an Wörtern haben: Man spricht auch von
Remanenz
, von dem lateinischen â¹remanereâº, â¹zurückbleibenâº. Und dieser Anblick stört Sie?»
«Ich fürchte eher, er könnte verschwinden. Aber ich muss zugeben, beim Autofahren oder beim Lesen ⦠Ich dachte â¦Â»
Der Arzt lächelte. Er war nicht mehr jung. Da das Auge die Tür zur Seele ist, hatte er in seiner Laufbahn wahrscheinlich alle Arten von Seelen in allen denkbaren Lagen gesehen.
«Sprechen Sie weiter.»
«Ich dachte ⦠Es ist lächerlich, aber vielleicht könnten Sie diese Frau, sollte es die Wissenschaft heute möglich machen, aus bestimmten Regionen meines Auges, Entschuldigung, fernhalten, damit ich, wie soll ich sagen, wieder etwas normaler leben kann?»
Das Lächeln auf dem Gesicht des Arztes verschwand. Seine Hand übernahm den Stab. Sie legte sich auf die seines Patienten.
«Mein armer Freund!»
Wenn ich junge Mädchen vor den Eingängen der Schulen rauchen sehe, weià ich nicht, ob ich träume. Sie unterhalten sich, sie kichern, sie fuchteln mit den Händen, sie sind ganz in Schwarz gekleidet, Schwarz ist Mode, die Mode schwankt, macht einen Versuch in Blau, in Rot und kehrt dann zu Schwarz zurück, die Mode hat immer recht.
Ich sehe ihre Gesichter zweigeteilt durch eine rote Linie, die beim Mund anfängt und bis zur Kehle geht.
Das ist meine Krankheit,
retinale Persistenz
: Ich kann kein Frauengesicht mehr sehen ohne die rote Linie, die Narbe. Die Narbe meiner Frau.
Der Chirurg hatte ein Adjektiv gefunden, das für die Narbe passte: «perfekt». Eine «perfekte» Narbe, in aller Bescheidenheit.
Er hatte ihr die Unterlippe aufgeschnitten, dann Kinn und Kiefer aufgesägt. Um mehr zu sehen und den trügerischen Abszess besser entfernen zu können, hatte er ihren Unterkiefer in der Mitte aufgeklappt wie die Flügeltüren eines alten Mercedes.
Dann hatte er alles wieder zusammengeklebt.
Ich nehme es ihm nicht übel. Er soll ein ausgezeichneter Chirurg sein. Alle beglückwünschten ihn. Alle schworen: Man sieht keinen Unterschied.
Wer nicht liebt, sieht keinen Unterschied.
Aber alle, die lieben, die ein Gesicht von Herzen lieben, sehen die beiden Stücke genau: Sie mögen noch so gut zusammengeschraubt sein, die Narbe mag noch so «perfekt» sein, es ist nicht mehr ein Gesicht, es sind zwei Hälften eines Gesichts.
Meine Frau weinte oft.
«Du liebst mich nicht mehr.»
«Wie kannst du so etwas sagen? Ich verlasse dich nicht.»
«Du gibst mir Beweise deiner Liebe, aber du liebst mich nicht mehr.»
«Und wie kommst du darauf?»
«Die Liebe zeigt sich im Blick. Du siehst mich nicht mehr an.»
Was kann man einer Frau erwidern, die man liebt unddie man genau aus diesem Grund nicht mehr ansieht, wie kann man ihr sagen, dass einem kein anderer Ausweg geblieben ist, um nicht in Tränen auszubrechen, als sie nicht mehr anzusehen, sondern sich zu erinnern? Sich an ihr Gesicht von früher zu erinnern, das Gesicht vor der «perfekten» Narbe?
Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum ich heute einen Bogen um Schulen mache.
«Sind Sie sicher, dass Sie dort entlangfahren wollen?»
«Ganz sicher.»
«Aber Sie wissen, dass es ein Umweg ist?»
Dazu sage ich nichts. Ich werde einem Taxifahrer nicht mein Leben erzählen. Aber Sie haben verstanden. Ich verzichte auf den kürzesten Weg, damit ich die jungen Mädchen nicht rauchen sehe. Deren Schleimhäute noch empfindlicher sind. Damit ich nicht anstelle ihrer hübschen Gesichter die künftigen Narben sehe, die perfekten Narben, die sie
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