Lied für eine geliebte Frau
ganzen kleinen GröÃe auf: Das wollen wir doch erst einmal sehen! Dieser vulgäre kleine Krebs würde doch keinen Mann wie ihn in die Knie zwingen. Erstens hatte er diese professionellen Moralapostel, die Dummköpfe von der christlichen Linken, zur Vernunft gebracht. Zweitens das Konglomerat aus Stimmungen und Unfähigkeit, das man Sozialistische Partei nannte, diszipliniert und in die Schlacht geführt. Drittens diese Tölpel, diese Papiertiger namens Kommunisten, umarmt oder, wie ich meine, erdrückt. Viertens die Franzosen von seiner ruhigen Kraft überzeugt. Fünftens der Linken endlich die Gelegenheit verschafft zu beweisen, was sie konnte. Sechstens nach MaÃgabe seines Programms begonnen, das Leben zu verändern usw. usw. Dieser gewöhnliche kleine Krebs würde schnell begreifen, mit wem er es zu tun hatte, und sich wieder zurückziehen, und das nicht ohne eine Entschuldigung, die der französische Staatspräsident, der noch nicht darüber entschieden hatte, vielleicht gar nicht annehmen würde.
Diese Siegesgewissheit war von höchster Würde und stellte nach Aussage aller Fachärzte die Hauptantriebskraft für die erstaunliche Rückbildung des Tumors dar, die es dem Präsidenten ermöglichte, vierzehn Jahre an der Macht zu bleiben.
Mich interessiert aber der andere Hochmut, der späterauftrat, als der gewöhnliche kleine Krebs nach einem langen und heimtückischen Krieg gegen alle Logik und alle Ehrfurcht über seinen Dienstvorgesetzten zu triumphieren begann.
Da überkam den französischen Staatspräsidenten jener andere Hochmut, die Krönung und Vollendung unter allen Spielarten des Hochmuts.
Ich, dachte sich der Staatspräsident, ich werde die jahrtausendealte Frage beantworten: Wohin? Wohin gehen die Toten nach dem Tod? Wäre dieses
geografische
Rätsel erst einmal gelöst, hätte sich die Frage nach dem Tod von selbst erledigt. Und ist es nicht ganz normal, dass das schwierigste Rätsel auf der Welt vom französischen Staatspräsidenten gelöst wird, also vom intelligentesten Mann des intelligentesten Volks auf der Welt?
Und so stürzte sich der Staatschef neben seinen offiziellen Tätigkeiten mit groÃer Sorgfalt in die Suche nach dem Aufenthaltsort der Toten.
Diese Suche gewann bald die Oberhand über alle anderen Beschäftigungen. Seine beiden Sekretärinnen, Paulette und Marie-Claire, erhielten Anweisung, seine Termine nach eigenem Gutdünken zu planen, zu lichten, auszudünnen und notfalls alles zu verschieben, was man verschieben konnte, sogar das, was eigentlich keinen Aufschub duldete, damit er genügend, das heiÃt: enorme Freiräume bekam, um Geistliche, Ãrzte, Philosophen aller Glaubensrichtungen zu besuchen, denen der Staatschef immer dieselbe Frage stellte, und das mit fortschreitender Krankheit immer ängstlicher â und immer wütender, weil er nicht den Hauch einer klaren und genauen Antwort erhielt.
Ich weià aus sicherer Quelle, das heiÃt aus dem Mundvon Betroffenen, dass der Präsident mitten in einer sachlichen Unterredung oder Diskussion und ohne jeden Bezug zum vorausgegangenen oder zum als nächstes vorgesehenen Thema plötzlich dazwischenrufen konnte:
«Ich vertraue Frau Bhutto. Pakistan kann für Frankreich zum Brückenkopf in Asien werden. Aber sagen Sie, Herr AuÃenminister, wo halten sich Ihrer Meinung nach die Toten nach dem Tod auf?»
Oder: «Es ist nicht nötig, dass Sie Ihr neues Finanzierungsgesetz in seinem ganzen Umfang vorstellen, Herr Wirtschaftsminister. Ich dachte gerade ⦠Da Sie doch über alles so gut Bescheid wissen, wo halten sich die Toten auf?»
Da sich Neuigkeiten rasch verbreiten, waren alle hochgestellten Persönlichkeiten in Frankreich darüber informiert, was den Staatspräsidenten umtrieb, und jeder hatte sich mit seinen Mitarbeitern sorgfältig auf eine Antwort vorbereitet. Nie zuvor hatten beispielsweise die Buchhandlungen im 6. und 7. Pariser Arrondissement das
Tibetanische Totenbuch
so häufig verkauft.
Glauben Sie aber bloà nicht, wenn Sie diese Zeilen lesen, der Präsident wäre den Staatsgeschäften gegenüber gleichgültig gewesen. Im Gegenteil, nie zuvor war er so genau und so entschlossen. Doch die Frage nach dem Jenseits kehrte immer wieder zurück, sie war so etwas wie seine Obsession, so wie andere überall nackte Frauen oder FuÃballerbeine im
Weitere Kostenlose Bücher