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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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mich bemühte, in Kontakt mit ihr zu treten. Sie wusste, dass ich sie nie, niemals verlassen würde. Ich würde mich nicht damit begnügen, mein Liedchen zu spielen und in eine Barke zu steigen wie der Faulpelz Orpheus. Ich würde sämtliche Türen zu allen Welten öffnen, um sie wiederzufinden.
    Kenia, Indien, Brasilien, Mali … Sie hatte schon immer gerne Fernreisen unternommen, besonders in meiner Gesellschaft. (Das hatte sie jedenfalls immer behauptet, abends zwischen einer Stechmücken- und einer Kakerlakenjagd in den schäbigen Hotelzimmern, in denen wir nach stundenlangen ermüdenden Autofahrten gestrandet waren. «Bist du mir wirklich nicht böse wegen all diesen Unbequemlichkeiten?» «Ich könnte nicht glücklicher sein.») Deshalb konnte sie sich über diese große Tour durch die halbe Welt nur freuen!
    Und dennoch, trotz all meiner Anstrengungen, habe ich nur Enttäuschungen erlebt. Soll ich Ihnen gestehen, dass ich auf meinem Gasherd die alte Praxis der Shang ausprobiert habe? Ich besorgte mir in einer Tierhandlung am Quai de la Mégisserie den Panzer einer Schildkröte, die leider verstorben war. In meiner Küche stank es sofort verbrannt, ohne dass ich auch nur die geringste Botschaftaus dem Jenseits auf dem viel zu schnell verkohlten Schildpatt lesen konnte. Ein weiteres Beispiel jämmerlichen Misserfolgs: Ich blamierte mich vor einem tibetanischen Weisen, der in einem Festsaal in Ville-d’Avray das
Bardo Thödöl
(das Totenbuch) vorstellte.
    Ich wartete, bis die Zuhörer, alles Buddhismusexperten, ihre Sachfragen gestellt hatten. («Woran erkennt man den Übergang vom vierten Bardo – dem Augenblick des Todes – in den fünften – die absolute Wirklichkeit?») Dann ging ich auf den Vortragenden zu und fragte ihn, ohne ihm Zeit zu geben, sich zu erholen:
    Â«Meine Frau ist vor sechs Monaten gestorben. Wo ist sie in diesem Augenblick?»
    Der Weise betrachtete mich mit einem sehr sanften Lächeln.
    Â«Das hängt ganz davon ab, ob sie im
Samsara
geblieben ist oder ob sie, was ich ihr wünsche, das
Nirwana
erreicht hat.»
    Hinter mir hörte ich die Kommentare der Experten:
    Â«Wo kommt denn der her? Das weiß doch jedes Kind!»
    Schamlos bohrte ich weiter:
    Â«Worin unterscheiden sie sich?»
    Es folgte ein entrüsteter Ausruf. Man schob von hinten, um mich loszuwerden, ich behauptete mich. Die Experten fühlten sich bemüßigt, sich zu entschuldigen: «Verzeihen Sie uns, Meister, dass Sie von so weit hergekommen sind, um mit einem derartigen Analphabeten Ihre Zeit zu verlieren.»
    Der Weise hob den Arm, um Ruhe zu schaffen. Er wandte mir sein sympathisches, kreisrundes und glänzendes Gesicht zu:
    Â«Wer stirbt?»
    Â«Das weiß ich: meine Frau.»
    Â«Ihr Ich war eine Illusion, wie alle Ichs. Das Ich ist das kurzzeitige Zusammentreffen von fünf verschiedenen Elementen: der körperlichen Form, den Empfindungen, den Wahrnehmungen, den Gedankengängen und dem Bewusstsein. Bei seinem Tod treten diese fünf Elemente wieder auseinander.»
    Offenkundig war die Tatsache, dass das Ich eine Illusion ist, für ihn die beste aller Nachrichten. Er war heiter. Fast wäre er in Gelächter ausgebrochen. Seine Schüler teilten seinen Frohsinn. Es soll ein einheitliches und autonomes Ich geben? Dass wir nicht lachen!
    Ich ließ trotzdem nicht locker.
    Â«Gibt es denn eine Möglichkeit für mich, sie wiederzufinden?»
    Â«Wie ich sehe, haben Sie mich nicht richtig verstanden. Wen wollen Sie wiederfinden? Welches Stück des illusionären Ichs?»
    Die Schüler wurden ungeduldig. Viele blickten auf die Uhr. Bald würde der letzte Zug fahren. Doch der fröhliche Mönch ließ sich Zeit.
    Â«Die Menschen sind die Erben ihrer Taten. Entweder hat Ihre Frau nur Gutes getan …»
    Â«Ich habe nie einen großmütigeren Menschen gekannt!»
    Â«In diesem Fall hat sie vielleicht den
Weg
gefunden.»
    Â«Wohin führt dieser
Weg
?»
    Â«Dieser
Weg
ist die Auslöschung.»
    Â«Ich Ärmster!»
    Das war zu viel für die Spezialisten. Kurzerhand wurde ich beiseitegeschoben. Sie nahmen den Mönch mit. Erhätte mir gerne weiter Rat gegeben, niemand hätte liebenswürdiger und zugänglicher sein können als dieser Mann. Die Redakteurin einer Buddhismus-Sendung im Fernsehen, eine sehr schöne Blondine namens Catherine, hatte ihn in

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