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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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nicht zu ihr kam um zu lernen, sondern um in Entzücken zu geraten.
    Â«Bitte, Madame Ochoa, zeigen Sie es uns.»
    Â«Könnten Sie diese Schrittfolge noch ein einziges Mal vormachen, bitte?»
    Doch sie ließ sich nicht um den Finger wickeln. Und dieser ständigen Bewegung wohnte ein starkes Berufsethos inne, ein wahrhaft pädagogischer Wille. Sie beabsichtigte nicht, ihr Silber zu verschleudern. Sie mühte sich wirklich ab. Hatte man sich erst für einen Kurs eingeschrieben,ließ sie nicht mehr locker. Sie forderte einen. Sie tobte.
    Â«So geht das nicht.»
    Dabei hatte ich alles beachtet. Den linken Ellbogen vom Körper abgewinkelt. Die rechte Hand flach zwischen die Schulterblätter meiner jungen Partnerin gelegt: Nathalie, die schöne Buchhändlerin, war Anfängerin wie ich, allerdings ungleich begabter. Und kein Fehler bei den Schritten. Natürlich konnte ich mir nicht verkneifen, eins, zwei, drei, vier, eins, zwei, drei, vier zu brummen, doch ich schwöre, niemand, nicht einmal das Ohr einer kleinen, gelb gekleideten Tanzlehrerin, nicht einmal Nathalies nur fünfzehn Zentimeter von meinem Mund entferntes Ohr hätte mich hören können. Und zum ersten Mal war mir die Schrittfolge gelungen, die mir so viel Mühe gemacht hatte: Grundschritt Mambo-Cucaracha. Ohne jede Leichtigkeit, aber mit gewissenhafter Genauigkeit und vollkommen richtig im Takt.
    Warum jetzt diese kalte Dusche? Warum dieses «So geht das nicht»?
    Die kleine schwarzgelbe Lehrerin streckte mich mit ihrem Blick nieder.
    Â«Du bist lächerlich.»
    An dieser Feststellung ist nichts Neues. Doch wenn ich bitten darf, Madame, was hat diese Lächerlichkeit plötzlich so verstärkt?
    Â«Du hüpfst.»
    Wie man sich vorstellen kann, raubte mir diese Antwort den Atem. Mir war, als hätte ich genügend andere und erheblich schwerere Sünden wider den Geist des lateinamerikanischen Tanzes begangen.
    Â«Jemandem, der hüpft, kann ich nichts beibringen.»
    Sie schlüpfte bereits in anderes Schuhwerk, Tennisschuhe statt Halbschuhen mit Absatz. Schon schloss sie ihren Plastikbeutel. Mit einer brüsken Kopfbewegung, einer Art Abscheu wies sie den Schein zurück, den ich ihr hinhielt, und die kleine gelbschwarze Gestalt verschwand. Ich hörte noch lange, wie sie wütend über die Holzterrasse davonstapfte, und an Tagen, an denen mich der Weltschmerz packt, meine ich bisweilen, sie noch immer zu hören.
    So endete der erste Abschnitt meiner tänzerischen Karriere.

    Da rief ich meine Frau zu Hilfe.
    Sie hatte immerhin seit ihrer Kindheit getanzt. Fast hätte sie aus dem Tanzen einen Beruf gemacht: Zwei Ensembles wollten sie haben. Der Tanz war ihre große Sehnsucht, wie meine die Musik ist.
    Zu sagen, ich hätte sie zu Hilfe «gerufen», ist eigentlich zu viel gesagt, es passt nicht, es hätte nur gepasst, wenn wir beide am Leben gewesen wären.
    Ich habe mich damit begnügt, mich auf eine Bank zu setzen, die sie gerne mochte, am Ende des Kais, an dem die Sandschiffe anlegten. Dort luden sie ihren Fang aus: kleine hellgelbe Berge, die nach Meeresgrund dufteten. Sie schwärmte für diesen Duft, ich sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und ihre Nasenflügel zitterten.
    Â«Erinnert dich das nicht an etwas?»
    Meine Frau träumte davon, eines Nachts hierherzukommenund dann auf dem nassen Sand mit mir zu schlafen. Sie sagte auch: «Du weißt doch, ich rieche auch nach Meeresgrund, du kannst vergleichen und mir dann sagen, wie es ist.» Wir haben dieses schöne Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt, ebenso wenig wie viele andere. Wir hatten nicht genug Nächte.
    Ich setzte mich. Und dann wartete ich.
    Ich sah die Flut kommen und alles, was sie mitbrachte, Äste, Holzstämme, Plastikflaschen und Rentnerschiffe: Es gibt keine Berufsfischer mehr bei uns. Alle fischen, aber alle sind in Rente.
    Und schließlich kam sie.
    Plötzlich war sie da.
    Es war immer ihre Art, plötzlich da zu sein, ohne dass man sie hatte kommen hören. Ihr Tod hatte eigentlich nichts daran geändert.
    Â«Geht es dir nicht gut? Kann ich etwas für dich tun?»
    Ich dankte ihr unverzüglich. Sie hasste Dankesworte, und wir hatten ja auch kaum Zeit: Tote verschwinden von jetzt auf nachher, ohne Vorwarnung, so wie sie gekommen sind. Ich kam schnell zur Sache: meine Hüpfer. Ich ahnte, dass sie lächelte. Ich wagte nicht, mich umzudrehen und

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