Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
Vom Netzwerk:
sie anzusehen.
    Â«Lass uns von vorne anfangen, also bei der Erde. Welche Beziehung möchtest du zur Erde haben?»
    Ich erkannte ihre Stimme nicht wieder. Sie sprach langsam, mit einer gewissen Feierlichkeit im Tonfall. Vielleicht hatte man im Jenseits eine Universität eröffnet? Irgendwie muss man ja die Zeit totschlagen. Vielleicht besuchten die Toten Abendkurse? Ihre Sätze hatten mehrKlarheit, mehr Logik, ausgerechnet bei ihr, der ich bis zur Erschöpfung, aber mit Begeisterung, von einer Abschweifung zur anderen gefolgt war; wenn sie erzählte, hatte ich mich immer wie eine Gämse gefühlt, eine alte Gämse, die von Fels zu Fels springt. Und jetzt gab es nichts auszusetzen, Subjekt, Verb, Ergänzung, und welch ein Fortschritt bei der Zusammenführung!
    Â«Es gibt Tänze, die schlagen die Erde. Du machst dich schwer. Du willst hinein. Die Füße stampfen immer wieder auf den Boden, als klopften sie an einer geschlossenen Tür. Andere Tänze hoffen, sie würden eines Tages von der Erde abheben. Du springst, springst immer wieder, du machst dich leicht, versuchst, dein Gewicht loszuwerden. Dann gibt es Tänze, die gleiten über die Erde, streifen sie, berühren sie kaum, streicheln sie … Und zuletzt gibt es Tänze, die tätscheln: Polka, Gavotte. Man weiß nicht so genau, was diese Tänze von der Erde wollen, vielleicht Spaß? Oder sie wecken? Sie kitzeln?»
    Â«Verstehe. Ich habe mich im Tanz geirrt.»
    Â«Ich habe dich nicht tanzen sehen, aber ich weiß, du bist noch nicht so weit. Du tanzt noch nicht. Vielleicht wird es dir eines Tages gelingen. Im Augenblick sammelst du. Du verwechselst. Beim Tango springt man nicht, beim afrikanischen Tanz gleitet man nicht … Wer alle Sprachen vermischt, kann nicht sprechen. Ich glaube, die Erde ist wie wir: Sie will wissen, an wen sie sich halten muss, mit wem sie zu tun hat. Immerhin strampeln wir auf ihrem Rücken. Man kann nicht alles gleichzeitig machen. Welchen Tanz solltest du tanzen?»
    Â«Salsa, Mambo, die Tänze der Karibik …»
    Â«Und du hüpfst? Ach, du Unglücklicher!»
    Ich drehte mich um.
    Sie war nicht mehr da. Neben mir war die Bank leer. Daher wusste ich, dass ich nicht geträumt hatte. Sie war mir wirklich zu Hilfe gekommen. Ich habe bei keinem anderen Menschen diese schlechte Sitte erlebt, unvermittelt vom Tisch aufzustehen oder, im Bett, mitten im Satz, bei einer zärtlichen Umarmung einzuschlafen. Wahrscheinlich fühlte sie sich schwach und ahnte, was sich in ihr anbahnte. Sie hat mich allein gelassen mit all diesen unvollendeten Sätzen, die ich ergänzen muss. Wie man einem Kind ein Spiel vorschlägt, ihm Bilder zum Ausmalen gibt, um es abzulenken, oder vielmehr, um es zu trösten.
    Ein Sandschlepper lief ein.
    Ich war nicht so mutig zu warten, bis er seine Ladung löschte, nicht so mutig, den Duft zu riechen, den sie allen anderen vorzog, den Meeresgrund.

    Ich kehrte in die Tanzstunde zu Madame Ochoa zurück. Ich war eigensinnig. Einen nach dem anderen merzte ich meine Hüpfer aus.
    Eines Tages nickte sie.
    Â«So langsam sieht es aus wie Tanzen.»
    Sie lächelte mir zu.
    Â«Noch nie ist mir jemand mit so wenig Talent untergekommen … Und auch nie jemand, der so … Wie sagen Sie? Ein schwieriges Wort … halsstarrig ist? Darf ich Sie etwas fragen?»
    Â«Was Sie wollen.»
    Â«Warum legt sich jemand wie Sie bei so wenig Begabung so ins Zeug?»
    Â«Wegen der Gespenster.»
    Ich hatte seit Langem geahnt, dass der Tanz, unter anderem, der Humor des Körpers ist: Tanzen lernen heißt lernen, sich über die Plumpheit unseres Körpers, aber auch über unsere hochtrabenden Worte lustig zu machen. Der Tanz ist ein Schalk.
    Und deshalb ist er eine vollkommene Waffe gegen Gespenster. Gespenster grinsen höhnisch, aber was ist dieses Grinsen anderes als der Ausdruck von Verachtung, der Nichte der hochtrabenden Worte? Jemand, der herablassend grinst, hält sich für überlegen, er kann gar nicht anders, als sich demjenigen gegenüber für überlegen zu halten, den er auslacht.
    Doch der Schalk ist dem überlegen, der höhnisch lacht, denn Schalkhaftigkeit verleiht Flügel. Gibt es ein größeres Vergnügen, als auf einen herabzublicken, der sich für den Größten hält?
    Seit den Stunden bei Madame Ochoa stehe ich auf, wenn sich ein Gespenst nähert, und setze mich in Bewegung, in

Weitere Kostenlose Bücher