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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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eine Bewegung, die dem Tanzen ähnelt. Musik ist nicht nötig, ich gleite. Gespenster mögen es nicht, wenn man gleitet. Sie spüren, dass man ihnen auf diese Weise entkommt. Sie haben recht.

    Ich erzähle diese Geschichte für die Jüngeren, aus echter pädagogischer Sorge und dem wachsenden Bedürfnis, etwas weiterzugeben.
    Â«Wie machen Sie das nur in Ihrem Alter? Wie kriegen Sie das bloß hin?», fragen sie mich im Tanzlokal oder aufder Straße bei der
Fête de la musique
, wenn ich einmal drei Schritte hintereinander tanze. «Wie geschmeidig Sie sind, Monsieur! In Ihrem Alter! Darf ich Sie fragen …? Sechzig! Was für ein Gleitschritt, wie eine Feder streichen Sie über den Boden!»
    Man müsste ihnen sagen, wie beschämend, was für ein tollpatschiges Hüpfen meine ersten, meine allerersten Versuche waren. Man fragt mich oft nach der Adresse von Madame Ochoa. Dann breite ich die Arme aus und zucke mit den Schultern. Es ist kein Unwille, ich habe keine Bedenken, ich wüsste nicht, warum ich diesen Schatz für mich, für mich ganz allein behalten sollte … Sie ist einfach weg. Eines Tages flog Madame Ochoa davon … Ich sagte ja bereits: Für einen Tänzer wird die ganze Erde zur Tanzfläche. Wenn Füße, wenn Beine in Bewegung kommen, kann keine Mauer, kein Meer sie mehr aufhalten.
    Ich ärgere mich darüber. Manchmal spüre ich, wie meine Füße, meine Beine unruhig werden, sie wollen ihre gewohnte Umgebung verlassen. Etwas sagt mir, dass sie Madame Ochoa wiedersehen wollen. Ich sollte die Zügel lockern und ihnen folgen, wohin sie mich auch tragen. Denn ich kann Madame Ochoa nicht genug danken. Aber ich bleibe hier. Ich beruhige meine Füße, meine Beine, so gut ich kann, und nehme das Alter als Ausrede, meine Schwerfälligkeit, meine akuten Venenentzündungen. Ihnen gestehe ich es. Es sind scheinheilige Entschuldigungen, frei erfundene Umstände. Trägheit, gewöhnliche Faulheit. Ich hätte meinen Beinen, meinen Füßen freien Lauf lassen sollen. Sie hätten sie sicher mühelos dort gefunden, wo sie heute ist, um Hüpfer zu bekriegen.

 
    Â 
    Es genügte nicht zu tanzen.
    Ich suchte weiter nach meiner Frau. Wochenlang, monatelang. An den unglaublichsten Orten. Weit weg von dem Aufenthaltsort, der den Toten für gewöhnlich zugedacht wird.
    Häufig meinte ich zu hören, wie sie mich rief:
    Â«Kommst du endlich? Du lässt dir Zeit!»
    Sie wusste gar nicht, wie recht sie hatte.
    Sie hatte mir häufig von einer schlimmen Kindheitserinnerung erzählt. Eines Tages hatte sie sich beim Versteckspiel zu gut versteckt, und man hatte sie vergessen. Ihre Freunde spielten längst etwas anderes, ohne nach ihr gerufen zu haben. Aus Enttäuschung kroch sie erst lange Zeit später, mitten in der Nacht, aus ihrem Versteck, als ihre Familie sich voller Angst endlich auf die Suche nach ihr gemacht hatte. Sie weinte:
    Â«Ich dachte … ich dachte, ich könnte nie mehr zurückkommen.»
    Die Familie war fassungslos.
    Â«Von wo zurückkommen? Aus deinem Versteck? Du Dummerchen, man kommt doch jedes Mal aus seinem Versteck wieder hervor!»
    Â«Nein! Aus meinem Verschwundensein.»

    Dabei fällt mir die UNESCO ein. Durch Jean d’Ormesson konnte ich mich in eine Sitzung des International Council for Philosophy and Humanistic Studies einschleichen. Verschiedene Mathematiker hatten vorgetragen, dann ein Wissenschaftshistoriker, der ein Spezialist für Kepler war (jenen Deutschen, der allein durch Berechnungen die Existenz eines Planeten beweisen konnte, den man nie zuvor gesehen hatte). Zuletzt sprach ein alter Afrikaner, Amadou Hampâté Bâ.
    Â«Man muss sich immer wieder vor Augen führen: Dass man etwas weder sehen noch anfassen oder fühlen kann, ist noch kein Beweis, dass es nicht existiert.»
    Ich danke ihm. Er hat mir einen neuen Weg eröffnet.
    Ich erzähle Ihnen nicht alles, ich fasse zusammen, vereinfache. Noch einmal spielte ich ein wenig, ein klein wenig Mitterrand. Ich fragte alle möglichen Leute aus, angefangen bei den Physikern, den Fachleuten für Licht und Wellen (gibt es Infrarotlicht? Natürlich! Und Ultraviolett? Natürlich auch! Und kein menschliches Auge sieht es? Niemand. Dann ist meine Frau also noch da, nur aus meinem Gesichtsfeld verschwunden!).
    Es waren diese Wissenschaftler, die mit mir über die Zeit gesprochen haben.

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