Lied für eine geliebte Frau
Von denen ich gelernt habe, die beiden möglichen Konzepte der Zeit auseinanderzuhalten. Nach dem ersten, der tensed theory of time, flieÃt die Zeit. Die Zeit ist eine dynamische Entität und vom Raum unterschieden. In dem MaÃ, in dem die Zeit vergeht, geht die Menschheit einen der Wege, die ihr möglich sind. Die Welt ist wie ein Baum, und während die Gegenwart den Stamm hinauf steigt, fallen immer mehr Zweige (oder Möglichkeiten) hinab.
Bis hierher ist noch nichts verwirrend.
Die zweite Auffassung ist jedoch schwieriger: «Nach der
tenseless theory of time
gleicht die Zeit in allem dem Raum.
So wie es New York, London und Moskau gibt, aber nicht am selben Ort, so gibt es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, jedoch nicht im selben Augenblick
.»
Klarer hätte die Botschaft nicht sein können: Meine Frau wohnte also in der Zeit. Sehr schön. Aber wie konnte man in dieses Reich gelangen?
Wieder klemmte ich mich verbissen dahinter. Es musste doch Wege geben, in dieses Universum zu gelangen, wo Zeit und Raum ineinanderflossen!
Ich las John Ellis McTaggart und Aristoteles, Bertrand Russell und C.D. Broad ⦠Ohne einen anderen Gewinn als die Erkenntnis meiner intellektuellen Beschränktheit: Diese Leute bewegten sich in Abstraktionen, die mir immer unbegreiflich bleiben werden.
Ich war klug genug, einen Weg aufzugeben, dem mein armer Kopf nicht gewachsen war. AuÃerdem dachte ich mir â niemand ist geschickter als ich, wenn es darum geht, Entschuldigungen für meine Unzulänglichkeiten zu finden â, dass meine Frau, so sinnlich, so lebendig und instinktgeleitet, wie sie war, wohl kaum zu diesen unendlich komplexen Gleichungen Zuflucht genommen hätte.
Ab und zu packt mich wieder das Virus. Dann rufe ich befreundete Physiker an. Sie weisen mich auf eine bevorstehende Tagung hin, bei der nebenbei ein Nobelpreisträger bekannt gegeben wird. Sie wünschen mir Glück: «Du wirst sehen, er spricht schnell, aber sehr klar.» Oder: «Das mathematische Niveau dürfte nicht sehr hoch sein.»
Mit klopfendem Herzen gehe ich dann in die Ãcole Normale Supérieure oder ins College de France. Wie immer gebe ich nach drei Minuten auf. Die Zuhörer nicken regelmäÃig mit dem Kopf. Alle scheinen zu verstehen, worum es geht.
Der Vortrag geht dem Ende zu, der Redner legt die Kreide aus der Hand.
«Gibt es noch Fragen?»
Ich widerstehe mit all meiner Kraft der Versuchung, die Hand zu heben. Eines Tages werde ich es nicht mehr aushalten. Ich werde einen Gelehrten fragen, ob er in den höheren Sphären, in denen er sich bewegt, nicht eine Sonne getroffen hat, in einem jener berühmten und mir auf ewig unverständlichen Winkel der
tenseless theory of time
.
Ich muss noch einen letzten Rückfall gestehen.
Eine der übelsten Grausamkeiten des Todes ist das Vergessen. Man vergisst, dass der andere nicht mehr ist. Oder vielmehr, man hat noch keine Erinnerung daran: Das Gedächtnis verweigert sich dieser Information. Man sieht, man dreht sich um, man glaubt, jemandem zu begegnen, und da ist niemand. Ich lag in meinem Bett, unserem Bett. Ich bewegte vorsichtig ein Bein, ganz vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Ich schlüpfte an ihre Seite. Ich wollte mich gerade im Dämmerlicht ihrem Kopf nähern, den Atem aus ihrem Mund spüren, bevor das erste jener Worte fallen würde, die mich immer so betörten. Ich streckte den Arm aus, der ins Leere griff.
In diesem Augenblick flüsterte sie mir etwas zu, bestimmt wollte sie sich entschuldigen, dass sie nicht mehr da war. Eigentlich war es eine Wiederholung von Worten, die sie vor langer Zeit einmal geflüstert hatte, ganz am Anfang unserer Beziehung, in den schrecklichen Stunden, in denen das Schicksal in der Schwebe war: Bleibt es bei einer kurzen Begegnung, einem leidenschaftlichen Strohfeuer, oder wird der Anker geworfen? An einem der ersten Morgende, auf dem Sprung zur Arbeit, hatte sie sich zwischen Tür und Angel zu mir gebeugt und mir ins Ohr geflüstert:
«Was für eine Nacht! Egal, was daraus wird, mich werden Sie verrückt gemacht haben.»
Ãbergehen wir den grotesken Stolz, der mich bei diesem Kompliment erfüllte, das zweifellos allein der Höflichkeit geschuldet war. Als sie es sagte, zuckte ich zusammen. Bald darauf verstand ich, welchen Grund meine Ãberraschung hatte. Ich hatte diesen Satztyp schon häufig gelesen, doch noch nie hatte ich einen
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