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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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jeden Fall Abitur machst, hörst du?«
    »Mama, natürlich mache ich… Ich meine, ich weiß überhaupt nicht, was du…«
    »Dein Vater würde es nicht überleben, wenn du ihn enttäuschst!«
    Mein Vater hatte sich noch nie für meine Zensuren interessiert. Er erfuhr sie von meiner Mutter. Er brummte dann kurz und schaltete den Fernseher ein oder ging in den Keller. Bei einer Drei schaltete er den Fernseher ein. Bei einer Fünf ging er in den Keller. Ich war nicht besonders gut in der Schule, aber auch nicht schlecht. Ich kam durch.
    Meine Mutter stützte immer noch ihren Kopf mit den Händen. Dann fing sie an zu weinen. Ich blieb ein paar Sekunden stehen, dann ging ich in mein Zimmer.
    Meine Zensuren interessierten meinen Vater nicht, wohl aber, wann ich nachts nach Hause kam. Es waren jetzt fast jeden Samstag Partys. Eines Sonntagmittags wachte ich auf, und mein Vater stand an meinem Bett und starrte mich an.
    »Was hast du dir dabei gedacht?« fragte er.
    »Was denn? Wobei?«
    »Gestern.« Bloß kein Wort zu viel. Vielleicht wird ja mal eine Wortsteuer eingeführt. Mein Vater und Marcel Marceau wären wohl die großen Gewinner.
    »Gestern war Samstag.«
    »Nicht frech werden!«
    »Worum geht es denn?«
    »Du solltest um zehn zu Hause sein.«
    »Und wann war ich da?«
    »Halb zwölf.«
    »Ich hab gedacht, ihr schlaft schon.«
    »Was hast du dir dabei gedacht?«
    »Gar nichts.«
    »Gar nichts?«
    »Es war eine Party. Da habe ich wohl die Zeit vergessen.«
    Mein Vater atmete aus, schüttelte den Kopf und verließ das Zimmer. Kurz darauf hörte ich die Wohnungstür zuschlagen. Er ging in den Keller.
    Was sollte ich jetzt machen? Wieder einmal hatten meine Eltern mich an die Supermarktkasse gestellt. Nur, daß es hier keine Süßigkeiten gab. Sollte ich mich entschuldigen? Ein bißchen tat es mir ja leid. Vielleicht machten sie sich ja tatsächlich Sorgen. Gleichzeitig schien es aber um was anderes zu gehen. Aber um was? Sorgen machen sah doch wohl anders aus. Aber wie? Das war wieder so eine Situation: Entschuldigen oder nicht? Ich tat erst mal nichts. Aber das hieß nicht, daß ich mich nicht entschuldigte. Es hieß aber auch nicht, daß ich mich entschuldigen würde. War ich jetzt ein Rebell? Schwer durchschaubar, schwer erziehbar? Warum wußte ich nicht, was ich tun sollte. Immerhin ging es um meine Eltern. Und auch wenn das allein nicht ausreichte: Ich würde noch ein paar Jahre mit ihnen auskommen müssen. Sollte ich mich also aus taktischen Gründen entschuldigen? Wieso war das alles so verwirrend? Warum war ich nicht wieder im Kindergarten, wo einem gesagt wurde, was richtig war und was falsch?
    Ich ging aufs Klo, wusch mich und zog mich an. Dann ging ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Meine Mutter stand am Herd und machte Essen. Es würde wieder Rindfleisch geben, mit Kartoffeln und Rosenkohl. Ich setzte Kaffee auf, hockte mich an den Tisch und blätterte in der Bild am Sonntag, die mein Vater schon um neun Uhr am Kiosk gekauft hatte. Unauffällig suchte ich nach Brüsten.
    »Hat dein Vater schon mit dir geredet?« fragte meine Mutter, ohne sich zu mir umzudrehen.
    »Ja.«
    »Und?«
    »Was und?«
    »Was hast du ihm gesagt?«
    »Was soll ich ihm schon gesagt haben!«
    »Wie konnte das passieren?«
    »Daß ich meinem Vater etwas gesagt habe?«
    »Junge!«
    »Was ist denn passiert?«
    »Das weißt du ganz genau.«
    »Ich habe nicht auf die Zeit geachtet.«
    »Wieso nicht?«
    »Es war eine Party.«
    »Und das ist Grund genug?«
    »Wofür?«
    »Wir haben uns Sorgen gemacht.«
    »Ich bin kein Kind mehr.«
    »Eben.«
    »Was soll das nun wieder heißen?«
    »Du hättest wenigstens anrufen können.«
    »Mein Gott, es geht um anderthalb Stunden. Was macht ihr denn, wenn ich wirklich mal was ausgefressen habe? Komme ich dann in ein Waisenhaus?«
    »Darüber macht man keine Witze.«
    »Ich finde das auch nicht komisch.«
    »Du hast auf alles eine Antwort, was?«
    »Viel zu selten.«
    Meine Mutter seufzte. »Du weißt doch, was aus dem Sohn von der Frau Heinemann geworden ist, oder?«
    Natürlich wußte ich, was aus dem Sohn von Frau Heinemann geworden war, Michael Heinemann, der sich Maik nannte, mit ai. Er war erst einundzwanzig, hatte aber schon im Gefängnis gesessen, weil er Automaten geknackt hatte, in Apotheken eingebrochen hatte und Drogen nahm. Seine Mutter kaufte nur noch in Geschäften ein, wo man sie nicht kannte. Wahrscheinlich hatte die Unterweltkarriere ihres Sohnes auch damit begonnen, daß

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