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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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er anderthalb Stunden zu spät von einer Party nach Hause gekommen war.
    »Der Michael hat immer noch keine Arbeit gefunden, seit er aus dem Gefängnis heraus ist!« sagte meine Mutter.
    »Ich habe ja noch nicht einmal Abitur!« gab ich zu bedenken.
    »Aber das machst du doch wohl noch mein Junge. Tu mir das nicht an!«
    »Ich sehe zur Zeit keinen Grund, es nicht zu machen.«
    »Was soll das heißen ›zur Zeit‹?«
    »Nichts, Mama, ich mache Abitur und damit hat sich’s!«
    »Du machst mir Angst, wenn du so redest.«
    »Ach Mama, jetzt hör aber mal auf.«
    »Mußt du unbedingt so mit deiner Mutter reden?«
    »Wie denn? Wie rede ich denn mit dir?«
    »Ach Junge. Junge, ach Junge!«
    Ich nahm meinen Kaffee, ging in mein Zimmer und sah aus dem Fenster. Mein Vater verließ gerade das Haus, um doch noch zu seinem Frühschoppen zu gehen. Eigentlich war es dazu viel zu spät, aber das hatte er ja seinem Herrn Sohn zu verdanken.
    Schon um Viertel nach eins war er wieder zurück, und wie üblich war meine Mutter da bereits seit fünfzehn Minuten sauer auf ihn, da eigentlich um eins gegessen werden sollte. Dabei kam mein Vater immer um genau diese Viertelstunde zu spät, das hing mit den Busfahrplänen zusammen, und meine Mutter wußte das. Aber sie hatte alles immer genau um eins fertig, nur um beim Essen öfter mal stumm den Kopf schütteln zu können. Mein Vater nutzte das einzige gemeinsame Mittagessen der ganzen Woche gern dazu, ein wenig an mir herumzunörgeln. Wenn ich mich dann verteidigte, brummte er: »Immer beim Essen!«, als hätte ich davon angefangen. Heute hielt er den Mund. Ich aß so schnell, wie ich konnte, und ging in mein Zimmer. Ich setzte die Kopfhörer auf und hörte »Independence Day« von Bruce Springsteen. There was no way this house could hold the two of us . Bei Onkel Bertram mochte ich einen Stein im Brett haben, aber für meine Eltern war ich ein Problemkind. 
     
    Eines Nachmittags stand im Arbeitskreis Nicaragua Grundlagenunterricht an. Eine magere Primanerin mit streng zurückgekämmten Haaren hielt ein Referat über Sandino. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und sprach sehr leise. Ich kannte sie vom Sehen. Man sah sie des öfteren im Gespräch mit den Vertrauenslehrern, die dann sehr ernst aussahen und ihr immer wieder die Hand auf die Schulter legten.
    Britta saß auf der Fensterbank, hatte ein Bein angewinkelt und ließ das andere baumeln. Die meiste Zeit schien sie der Referentin konzentriert zuzuhören, manchmal jedoch schweifte ihr Blick ab, und sie sah aus dem Fenster.
    Als das Referat zu Ende war, wurden noch ein paar Sachen besprochen, und dann durften wir gehen. Britta hielt mich zurück.
    »Warte mal«, sagte sie. »Ich wollte noch was mit dir besprechen.«
    Ich blieb stehen.
    »Setz dich mal!« sagte sie, und ich setzte mich.
    »Wir haben da doch demnächst diese große Nicaragua-Aktionswoche…«
    »Ja, haben wir.«
    »Und du hast dich mit dieser Thematik doch ganz gut beschäftigt.«
    Hatte ich das?
    »Naja, und da dachte ich, du könntest mir vielleicht dabei helfen, anläßlich dieser Aktionswoche ein Flugblatt zu erarbeiten, in dem wir umreißen, was wir da so anstellen wollen und warum und wieso und überhaupt.«
    »Klar«, sagte ich, »das könnte ich schon machen.«
    »Toll, was hältst du davon, wenn du morgen mal bei mir vorbeikommst, und wir gehen die Sache an?«
    »Bei dir? Zu Hause?«
    »Ich schreib dir die Adresse auf.« Sie nahm ein Heft aus ihrer abgewetzten Großvater-Aktentasche, riß die Mittelseite heraus, beugte sich über den Tisch und notierte die Adresse und malte auch noch in wenigen, klaren Strichen eine Skizze, wie ich von der Bushaltestelle zum Haus kam.
    »Also dann! Morgen um vier!« sagte sie und war weg.
    Zuerst war ich begeistert. Ich dachte daran, sofort zu Mücke zu laufen und es ihm zu erzählen. Aber von ihm hätte ich wohl nur Sauereien zu hören gekriegt, und die hätten der Würde des Vorgangs nicht entsprochen. Ich stand also da und genoß meinen Triumph ganz allein, ganz still, Old Shatterhand auf einem Hügel im Abendrot, den harten Blick in die Ferne gerichtet. Ich fühlte mich erwachsen.
    Dann dachte ich: Sollte ich das wirklich tun? Sollte ich tatsächlich zu ihr hinfahren? Zu ihr nach Hause? Ich würde höchstwahrscheinlich allein mit ihr in einem Zimmer sein. Die Chancen, daß ich das überlebte, gingen gegen Null. Aber wenn ich absagen würde, müßte ich erklären, warum ich das tat. Und was hätte ich da sagen sollen? Tut

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